Samstag, 6. Januar 2007

Das Kieferntor

Das Kieferntor
Es war ein kühler, fast frostiger Herbstabend, und der Mond war gerade aufgegangen, als der junge Ritter den Fuß des Berges erreichte. Die Wildnis lag im Licht des Vollmondes gebadet, das auf Zweigen und Blättern sein schimmerndes Spiel trieb. Ihm war, als habe sich hier während seiner siebenjährigen Abwesenheit nichts verändert, und doch schien nichts ihn willkommen zu heißen - ihn, der hier lange Jahre seines Lebens verbracht hatte und der nun aus der Fremde zurückkehrte.
Der Ritter hielt am Fuß des Berges inne und schaute hinauf.
Der schmale Pfad vor ihm war von einem Kieferntor versperrt, das fest verschlossen war. Er drückte gegen die starken Torflügel, aber sie gaben nicht nach unter seinen kräftigen Händen.
Das verwirrte ihn. Niemals, soweit er zurückdenken konnte, hatte sein Meister das Tor so verschlossen und versperrt gehalten. Da dies der einzige Aufstieg zum Berg war, blieb ihm keine Wahl. Mit einer Hand seinen Schwertknauf umfassend, nahm er kurz Anlauf und schnellte in die Höhe. Aber das war alles. Eine seltsame Kraft erfaßte seinen ganzen Körper und zwang ihn wieder auf den Erdboden zurück; es war ihm nicht möglich, das niedrige Tor zu überspringen. Im nächsten Augenblick hatte er sein langes Schwert gezogen, aber die scharfe Klinge prallte an dem weichen Kiefernholz ab wie an Stahl.
Der Rückschlag war so mächtig, daß eine Schockwelle durch seine Hand und sein Armgelenk schoß. Er hob sein Schwert und untersuchte seine im Mondlicht schimmernde Schneidefläche. Das Tor war tatsächlich zu hart. Es mußte wohl so sein, daß sein Meister es mit der Kraft seines eigenen Geistes verstärkt hatte. Es war verschlossen, und niemand durfte es passieren. So wollte es der Meister. Der Ritter seufzte tief. Er schob sein Schwert zurück in die Scheide und ließ sich außerhalb des Tores auf einem großen Felsen nieder.
Vor sieben Jahren, am Tag, an dem er den Berg verlassen hatte, hatte ihn sein Meister einen Augenblick lang wortlos angesehen. Seine Augen waren voller Güte, und noch etwas war darin, etwas, das aussah wie Mitleid. Er konnte nur schweigend den Kopf senken, als sein Blick dem mitfühlenden und verständnisvollen Blick seines Meisters begegnete. Kurz darauf sagte der alte Mann zu ihm: „Du kannst nicht für immer an meiner Seite bleiben. Früher oder später mußt du den Berg hinunter in die Welt gehen, wo du viel Gelegenheit haben wirst, den Weg zu leben und Menschen zu helfen. Ich dachte, ich könnte dich vielleicht noch ein wenig länger hierbehalten, aber wenn es dein Wille ist zu gehen, mein Kind, dann geh in Frieden. Nur eins noch: Denke immer daran, was ich dich gelehrt und dir gegeben habe, immer. Da unten in der Welt am Fuß dieses Berges wirst du alles davon brauchen.“ Dann war sein Meister noch einmal kurz durchgegangen, was er vermeiden, suchen, lassen und ändern sollte. Schließlich hatte er ihm freundlich die Hand auf die Schulter gelegt: „Dies sind die Richtlinien für dein Handeln. Tu niemals irgend etwas, das für dich selbst oder andere Leiden verursachen könnte, sei es in der Gegenwart oder in der Zukunft. Und geh ohne Angst den Weg, von dem du glaubst, daß er dich und andere zur vollkommenen Erleuchtung führt. Denke immer an die Maßstäbe, an denen Glück und Leid, Illusion und Befreiung zu messen sind. Ohne sie würdest du den Weg selbst verraten, nicht zu reden von deiner Aufgabe, der Welt zu helfen!
Ich habe dir mein kostbares Schwert bereits gegeben. Nutze es, um Dämonen und böse Geister zu unterwerfen. Aber ich möchte, daß du es eher wie eine scharfe Klinge betrachtest, die aus deinem eigenen Herzen kommt und mit der du deinen eigenen Ehrgeiz und deine eigenen Wünsche unterwirfst. Nun habe ich auch noch dies hier für dich, es wird dir deine Aufgabe erleichtern.“ Dann hatte der Meister aus seinem weiten Ärmel ein kleines Schauglas gezogen und es ihm hingehalten.
„Dies ist das Me-Ngo-Glas“, hatte er gesagt. „Es wird dir helfen, das Gute vom Bösen, das Tugendhafte vom Verdorbenen zu unterscheiden. Es wird auch Dämonenseher genannt, denn wenn du hindurchschaust, wirst du die wahren Gestalten der Dämonen, bösen Geister und dergleichen sehen...“ Er hatte das legendäre Schauglas aus der Hand seines Meisters entgegengenommen, aber er war so dankbar und so tief bewegt gewesen, daß er kein einziges Wort hervorbringen konnte. Am folgenden Tag, bei Anbruch der Dämmerung, ging er hinauf in die Haupthalle, um sich von seinem alten Meister zu verabschieden. Der alte Mann begleitete ihn den Berg hinunter, den ganzen Weg bis zum Tigerfluß, und dort, inmitten des Gemurmels des Gebirgsflusses, sagten sich Meister und Schüler Lebewohl. Wieder legte der Meister ihm eine Hand auf die Schulter und sah in seine Augen. Er sah ihm noch nach, als der junge Mann sich zum Gehen umgedreht hatte. Noch einmal rief er seinem Schüler nach: „Denk daran, mein Kind, Armut kann dich nicht schwächen, Reichtum dich nicht verführen, Macht dich nicht unterwerfen. Ich werde dich hier erwarten an dem Tag, an dem du zurückkehrst und deine Gelübde erfüllt hast!“ An die ersten Tage seiner Reise erinnerte er sich noch lebhaft.
Dann zogen Monate und Jahre an seinem inneren Auge vorbei. Wie sich ihm die Menschheit in verschiedenen Verkleidungen gezeigt hatte! Und welch wertvolle Dienste ihm das Schwert und das Me-Ngo-Schauglas geleistet hatten! Einmal war er einem Priester begegnet, von äußerst achtunggebietender Erscheinung, der - welch eine Ehre für den jungen Ritter ihn in seine Klause eingeladen hatte, um, wie der weise Alte sagte, „zu besprechen, wie sie am besten zusammenarbeiten könnten, um ihren Mitmenschen zu helfen“. Zuerst lauschte der junge Mann hingerissen, aber dann kam ihm irgend etwas an dem Priester seltsam vor. Er wischte das Me-Ngo blank und sah hindurch. Ein gigantischer Dämon saß da vor ihm! Aus seinen blauen Augen stoben knisternd Funken, auf der Stirn wuchs ihm ein Horn, und seine Fänge waren so lang wie seine eigenen Arme! Mit einem Satz wich der junge Mann zurück, zog sein Schwert und griff den Dämon heftig an. Der Dämon focht zurück, hatte aber natürlich keine Chance. Er warf sich dem jungen Mann zu Füßen und bat um Gnade. Der Ritter nahm ihm daraufhin den Eid ab, dahin zurückzukehren, woher er gekommen war, den Weg zu studieren und zu beten, daß er eines Tages als wahres menschliches Wesen in die Welt der Menschen zurückkehren könne, und sich niemals wieder als Priester zu verkleiden, um Unschuldige zu betören und ins Unglück zu stürzen. Ein anderes Mal begegnete er einem Mandarin, einem alten Mann mit einem langen weißen Bart.
Es war eine glückliche Begegnung zwischen einem jungen Helden, der ausgezogen war, die Welt zu retten, und einem hohen Beamten, „Vater und Mutter des Volkes“, der sich der Aufgabe gewidmet hatte, immer noch bessere Wege zur Regierung und zum Wohl der Massen zu finden. Wieder meldete sich der Instinkt des jungen Mannes: Unter dem Me-Ngo entpuppte sich der stattliche, ehrfurchteinflößende alte Beamte als riesiges Mastschwein, dessen Augen vor Gier förmlich trieften. In Sekundenschnelle flog das Schwert aus seiner Scheide. Das Schwein versuchte zu entkommen, aber der Ritter überholte es mit einem Satz. Mit gespreizten Beinen auf der Eingangsschwelle des Mandarinpalastes stehend, versperrte er den einzigen Fluchtweg. Und auch diesmal verließ der junge Mann das Untier nicht, ohne ihm das heilige Versprechen abzunehmen, daß es dem Weg folgen und niemals wieder die Gestalt eines Mandarins annehmen würde, um das Fleisch des Volkes zu verzehren und dessen Blut zu trinken.
Und dann war da jene Zeit, wo er, über einen Markt schlendernd, eine Menschenmenge sah, die einen Bücherstand umringte. Bilder- und Bücherverkäufer war eine sehr schöne junge Frau, deren Lächeln wie eine erblühende Blume war. Daneben saß eine andere junge Frau, ebenfalls atemberaubend schön, die leise, melodiöse Weisen sang und dabei die Saiten einer Laute zupfte. Die Schönheit der Mädchen und die Anmut der Lieder nahmen alle der Umstehenden so gefangen, daß niemand den Stand wieder verließ, wenn er erst einmal stehengeblieben war, und jeder konnte nur stehen und lauschen, verzaubert, und die Bilder und Bücher kaufen. Der junge Mann fühlte sich ebenfalls angezogen von der Szene.
Schließlich ging er näher und nahm eines der Bilder auf. Er war ganz überwältigt von der anmutigen Linienführung und den lebhaften Farben. Und doch war ihm irgendwie nicht wohl dabei. Er griff nach dem Me-Ngo. Die beiden schönen Mädchen waren in Wirklichkeit zwei riesige Schlangen, deren Zungen wie Messerklingen vor- und zurückschnellten! Mit einer einzigen Armbewegung fegte der Ritter alle Zuhörer beiseite und rief mit Donnerstimme, sein Schwert auf die Monster gerichtet: „Dämonen! Zurück in eure unheilvolle Natur!“ Die Menge zerstreute sich ängstlich. Die riesigen Schlangen gingen auf den jungen Mann los, aber sobald das berühmte Schwert einige surrende Kreise um ihre Körper gezogen hatte, rollten sie sich in Unterwerfung vor seinen Füßen zusammen. Er zwang ihre Kiefer auf und schnitt mit seinem Schwert ihre giftgefüllten Eckzähne heraus. Dann setzte er mit einer Fackel den Bücherstand in Brand und schickte die Monster zurück in ihre Behausungen, nicht ohne ihnen unter Androhung, sie völlig zu vernichten, das heilige Versprechen abgenommen zu haben, niemals wieder zurückzukommen und die Dorfleute zu verhexen.
So zog der junge Ritter also von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt auf seiner selbstgewählten Mission und gebrauchte die Waffe und das Schauglas, die beiden Dinge, die ihm sein Meister zusammen mit unschätzbaren Ratschlägen gegeben hatte. Voller Eifer stürzte er sich in seine Aufgabe. Seit einiger Zeit nannte er sich in Gedanken den unentbehrlichen Ritter.
Ohne ihn konnte die Welt nicht auskommen. Er war vom Berg herabgestiegen in die Welt, und er nahm vollen Anteil am Leben hier unten. Konfrontiert mit einer Welt, in der Verrat und Tücke herrschten, mußte er Flexibilität und Geduld lernen, und manchmal mußte er auch mit den Wölfen heulen, weil es sein Ziel war, zu überwinden und zu überzeugen. Es bereitete ihm große Freude, für das Gute zu kämpfen. Es kam sogar so weit, daß er vergaß, zu essen und zu trinken. Und noch mehr tat er, noch viel mehr, weil er aus der Verfolgung seines Zieles - den Menschen zu helfen - so viel Freude und Befriedigung zog, weniger um des Zieles selbst willen. Er diente, weil ihn dieses Dienen erfüllte, nicht unbedingt, weil die Menschen ihn brauchten.
So vergingen sieben Jahre. Eines Tages, als er sich am Ufer eines Flusses ausruhte und auf das langsam vorbeifließende Wasser schaute, wurde ihm plötzlich klar, daß er das Me-Ngo-Schauglas nun schon geraume Zeit nicht mehr benutzt hatte. Und ihm wurde auch klar, daß er es keineswegs vergessen hatte, sondern daß ihm einfach nicht danach gewesen war, es zu benutzen. Dann erinnerte er sich anderer Zeiten, wo er das Glas zwar benutzt hatte, aber nur sehr widerwillig. In jenen Tagen, als er gerade vom Berg hinabgestiegen war, kämpfte er bis auf den Tod, wann immer er durch das Me-Ngo die wahre Natur all des Bösen sah, das ihm begegnete. Er erinnerte sich dar an, wieviel Freude es ihm jedesmal bereitet hatte, wenn er durch das Glas das Abbild eines tugendhaften Menschen oder eines wahren Weisen sah. Aber offensichtlich war in letzter Zeit irgend etwas Seltsames mit ihm geschehen, und er wußte nicht, was. Es schien ihm, daß er gar keine große Freude mehr empfand, wenn er durch das Schauglas einen Weisen erblickte, ebenso wie er keine große Wut mehr empfand, wenn er die Abbilder von Monstern und Teufeln erblickte. Und wenn unter seinem Zauberglas Dämonen sichtbar wurden, konnte der junge Ritter nicht umhin festzustellen, daß sogar in ihren schreckenerregenden unmenschlichen Zügen etwas eigenartig Vertrautes lag.
Das Me-Ngo war sicher in seiner Tasche verwahrt, obwohl er es lange Zeit nicht benutzt hatte. Dann dachte der junge Ritter, daß er eines Tages wieder auf den Berg zurückkehren und den Rat seines Meisters erbitten würde: Warum hatte er solche Widerstände, etwas zu benutzen, das ihm doch offensichtlich so sehr geholfen hatte? Aber erst am zwölften Tag des achten Monats, als er einen Wald mit weißblühenden Pflaumenbäumen durchquerte und von den schneeweißen, unter dem Herbstmond schimmernden Blüten angerührt wurde, sehnte er sich plötzlich nach jenen Tagen, da er als junger Mann bei seinem alten Meister studiert hatte, dessen Hütte am Rand eines ebensolchen alten Pflaumenhains lag. Erst da beschloß er zurückzukehren. Sein Wunsch, den Meister zu sehen, ließ ihm die Reise endlos erscheinen: sieben Tage und sieben Nächte lang Hügel erklimmen und Ströme durchqueren. Aber als er den Fuß des hohen Berges erreichte, von wo er den Aufstieg zur Einsiedelei seines Meisters beginnen würde, senkte sich bereits die Dunkelheit herab. Der aufgehende.
Mond beleuchtete die fest geschlossenen Flügel des schweren Kieferntors, das ihn hinderte, den Berg weiter hinaufzusteigen.
Er konnte nichts anderes tun als warten. Wenn der Morgen dämmerte, dachte er, würde einer seiner „Brüder“ bestimmt herunterkommen, um Wasser aus dem Fluß zu schöpfen, und könnte ihm dann das Tor öffnen. Mittlerweile hatte der Mond seinen Höchststand bereits überschritten. Der ganze Berg und der Wald waren in sein kühles Licht getaucht. Als die Nacht weiter voranschritt, wurde die Luft noch eisiger. Er zog sein Schwert aus der Scheide und sah zu, wie der Mond auf seiner kalten, scharfen Klinge schimmerte. Dann steckte er es wieder in die Scheide zurück und stand auf. Der Mond schien außergewöhnlich hell. Der Berg, der Wald, alles um ihn herum alles war still und ruhig, als ob die Welt seine Gegenwart mit völliger Nichtbeachtung strafte. Er fühlte sich zurückgewiesen und ließ sich auf einen anderen Felsen fallen. Erneut zogen die sieben Jahre seines jüngsten Lebens an ihm vorbei. Langsam, ganz langsam, bewegte sich der Mond auf den entfernten Gipfel eines fernen Berges zu. Die Sterne am Himmel leuchteten hell, aber dann begannen auch sie sich zurückzuziehen und wurden blasser und blasser. Im Osten war schon die Andeutung eines Glühens zu sehen. Die Umrisse des Berges hoben sich plötzlich schärfer gegen den blassen Himmel ab. Gleich würde die Dämmerung anbrechen.
Der Ritter hörte trockene Blätter rascheln. Er sah auf und erblickte den undeutlichen Umriß eines Menschen, der den Berg herabgestiegen kam. Er dachte, es müsse wohl einer seiner jüngeren „Brüder“ sein, obwohl es noch nicht hell genug war und die Gestalt noch zu weit entfernt war, um ihre Züge auszumachen. Es mußte ein »Bruder« sein, weil er so etwas wie einen großen Krug trug. Wer immer es war, er kam näher und näher, und der Ritter hörte ihn schließlich freudig ausrufen: „Älterer Bruder!“ „Jüngerer Bruder!“ „Wann bist du angekommen? Gerade eben?“
„Nein, eigentlich bin ich angekommen, als der Mond gerade aufstieg! Ich habe die ganze Nacht hier unten gewartet. Warum in Gottes Namen hat jemand das Tor so verbarrikadiert? War es auf Befehl des Meisters?“ Der jüngere Schüler hob lächelnd seine Hand und zog, ganz sanft, an dem schweren Tor. Es schwang mit Leichtigkeit auf.
Er trat heraus und sah den Älteren an, während er ihm seine Hände reichte.
„Du mußt ja bis auf die Knochen durchgefroren sein, wenn du die ganze Nacht hier unten gewartet hast! Du bist ja völlig mit Tau bedeckt! Nun ja, ich habe immer den ganzen Tag hier unten verbracht, habe Kräuter gepflückt und das Tor bewacht, weißt du ... Wenn ich der Meinung war, jemand verdiene eine Audienz beim Meister, habe ich ihn hinaufgeführt, und wenn nicht, habe ich mich einfach unsichtbar gemacht! Ich versteckte mich dann hinter den Büschen, und sie gaben irgendwann auf. Weißt du, der Meister will niemanden sehen, der nicht wirklich entschlossen ist zu lernen. Kürzlich erlaubte mir dann der Meister, mich weiterführenden Studien zuzuwenden, und da ich jetzt die meiste Zeit oben in der Klause verbringe, sagte er mir, ich solle das Tor schließen. Er sagte, es würde sich tugendhaften Menschen von selbst öffnen, denjenigen jedoch, die den Staub der Welt mit sich bringen, würde es verschlossen bleiben und ihnen den Weg versperren. Niemand kann es jemals erklettern oder überspringen, besonders diejenigen nicht, die mit den Geistern von Dämonen und ähnlichem belastet sind!“ Der Ritter runzelte die Stirn: „Würdest du sagen, daß ich so jemand bin? Würdest du das? Warum blieb mir das Tor verschlossen?“ Der jüngere Mann lachte herzlich: „Aber natürlich nicht! Wie könntest du wohl so jemand sein? Auf jeden Fall können wir jetzt hinaufsteigen, wie du siehst, ist der Weg frei. Aber einen Augenblick noch, älterer Bruder! Ich muß zuerst etwas Wasser holen! Lächle doch, Bruder, lächle! Auf wen bist du wütend?“ Die beiden Männer lachten. Sie gingen zum Fluß hinunter. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber im Osten schimmerte es bereits hell. Die beiden Schüler konnten jetzt jede Linie im Gesicht des anderen ganz deutlich sehen. Das Wasser war von der Morgenröte blaßrosa überhaucht. Sie erkannten ihre Spiegelbilder darin: der Ritter kühn und stark in seiner Rüstung, das lange Schwert quer über den Rücken geschnallt; die Gestalt des jüngeren Schülers, sanfter in dem fließenden Dienergewand mit dem Krug in den Händen. Ohne ein Wort zu sagen, schauten beide ihr eigenes Spiegelbild an und lächelten einander zu. Eine Wasserspinne sprang hoch, und die rosiggetönte Wasseroberfläche kräuselte sich, so daß ihre Spiegelbilder von Tausenden von Wellenmustern überzogen wurden.
„Wie wunderschön! Bestimmt würde ich unsere Spiegelbilder endgültig zerstören, wenn ich den Krug jetzt eintauchte. Übrigens, hast du das Me-Ngo-Scllauglas noch? Der Meister gab es dir doch, als du vor Jahren den Berg hinabstiegst!“ Der Ritter erkannte, daß er das Schauglas all die Jahre tatsächlich nur benutzt hatte, um andere anzusehen, nicht einmal hatte er sich sein eigenes Abbild angeschaut! Er zog das Glas heraus, wischte es an seinem Ärmel ab und richtete es auf die Wasseroberfläche. Die beiden Köpfe kamen nah zusammen, um gemeinsam durch die kleine Linse zu schauen.
Ein gellender Schrei entfuhr den Kehlen der beiden jungen Männer. Er hallte im Wald wider. Der Ritter fiel vornüber und brach am Ufer des Flusses zusammen. Ein Hirsch, der weiter flußaufwärts trank, sah furchtsam auf.
Der jüngere Schüler konnte nicht glauben, was er durch das Glas gesehen hatte. Da stand er in seinem fließenden Gewand, einen Krug in der Hand, neben einem riesigen Dämonen, mit Augen so tief und dunkel wie tiefliegende Brunnen und langen Hauern, die sich um seine eckigen Kinnladen bogen. Ja, er sah die Gesichtsfarbe des Dämonen. Ein bläuliches Grau war es, die Farbe von Asche und Tod. Den jungen Mann schauderte; er rieb sich die Augen und sah erneut den Älteren an, der nun bewußtlos auf den blauen Steinen am Flußufer lag. Schock und Entsetzen standen ihm noch immer im Gesicht geschrieben; diesem Mann, der sieben Jahre lang mutig der grausamen Welt am Fuß ihrer Bergeinsiedelei getrotzt hatte, hatte sich das Leid in die Züge gegraben.
Der junge Schüler eilte zum Fluß, um Wasser zu holen und das Gesicht des Älteren damit zu benetzen. Augenblicke später kam der Ritter wieder zu sich. Sein Gesicht war von Verzweiflung verwüstet. Sein wahres Abbild war im Me-Ngo so unerwartet erschienen; es hatte ihm auf so schockierende und brutale Weise Selbsterkenntnis gebracht, daß er unter dem Schlag nur zusammenbrechen konnte. All seine Energie schien ihn verlassen zu haben. Er versuchte aufzustehen, aber er hatte keine Kraft in seinen Beinen und Armen. „Ist schon gut, ist schon gut, Bruder! Wir gehen jetzt hinauf.“ In den Ohren des Ritters klang die Stimme seines Bruders wie das kaum wahrnehmbare Geräusch einer zarten Brise, ein schwaches Murmeln aus der Ferne. Er schüttelte den Kopf.
Seine Welt war zusammengebrochen, er wollte nicht länger leben. Er fühlte sich, als seien sein Körper und seine Seele von einem Wirbelsturm hinweggefegt worden. Er konnte sich nicht vorstellen, seinem geliebten Meister jemals wieder unter die Augen zu treten.
Der jüngere Mann fegte den Sand von den Schultern seines Bruders: „Aber nein, mach dir deshalb keine Sorgen. Du weißt, daß der Meister nichts als Mitgefühl für dich hat. Laß uns jetzt hinaufgehen. Wir werden wieder zusammen leben und arbeiten und studieren...“ Langsam gingen die beiden Gestalten den steinigen steilen, gewundenen Pfad den Berg hinauf. Der Tag war noch nicht angebrochen. Die Silhouetten zeichneten sich in dem dünnen Schleier aus Tau ab, der Bäume und Felsen überzog. Schließlich fielen die ersten Sonnenstrahlen auf die bei den Männer und verschärften den Kontrast: Der Ritter schien noch gebrochener an Körper und Geist, wie er neben dem jüngeren Schüler ging, dessen Schritte fest und dessen Miene sanft war.
Über dem Berggipfel in der Ferne ging die Sonne auf.

Anmerkung:
Im Fernen Osten (China, Japan, Korea, Vietnam) gab es eine alte Tradition, der zufolge sich weise alte Männer (taoistische Mönche oder buddhistische Priester) auf Berggipfel zurückzogen, wo sie Einsiedeleien bauten, die meist „Steingrotten“ oder „Grashütten“ genannt wurden. Sie nahmen einige auserwählte Schüler an und lehrten sie den „Weg“. Außer auf geistig-spirituelle Studien wurde großer Wert auf Kriegskünste mit gewaltfreier Tradition gelegt. Die alten Meister brachten ihren Schülern die Kunst des Schwert-, Stabkampfes, Joga, Judo, Karate, Kung Fu und andere Fertigkeiten bei und schickten sie dann hinunter in die Weh. Die Schüler wurden entweder nach der Reihenfolge ihrer Aufnahme beim Meister eingestuft oder nach Alter oder nach ihren Fähigkeiten. Sie nannten einander „Älterer Bruder“ oder „Jüngerer Bruder“.
Die „Gurus“ wurden su-phu genannt: Meister-Vater.

Hanh, Thich Nhat; Der Mondbambus; Knaur Verlag München 2001; ISBN 3-426-87142-4; S. 179 - 190

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