Samstag, 6. Januar 2007

Das Kieferntor

Das Kieferntor
Es war ein kühler, fast frostiger Herbstabend, und der Mond war gerade aufgegangen, als der junge Ritter den Fuß des Berges erreichte. Die Wildnis lag im Licht des Vollmondes gebadet, das auf Zweigen und Blättern sein schimmerndes Spiel trieb. Ihm war, als habe sich hier während seiner siebenjährigen Abwesenheit nichts verändert, und doch schien nichts ihn willkommen zu heißen - ihn, der hier lange Jahre seines Lebens verbracht hatte und der nun aus der Fremde zurückkehrte.
Der Ritter hielt am Fuß des Berges inne und schaute hinauf.
Der schmale Pfad vor ihm war von einem Kieferntor versperrt, das fest verschlossen war. Er drückte gegen die starken Torflügel, aber sie gaben nicht nach unter seinen kräftigen Händen.
Das verwirrte ihn. Niemals, soweit er zurückdenken konnte, hatte sein Meister das Tor so verschlossen und versperrt gehalten. Da dies der einzige Aufstieg zum Berg war, blieb ihm keine Wahl. Mit einer Hand seinen Schwertknauf umfassend, nahm er kurz Anlauf und schnellte in die Höhe. Aber das war alles. Eine seltsame Kraft erfaßte seinen ganzen Körper und zwang ihn wieder auf den Erdboden zurück; es war ihm nicht möglich, das niedrige Tor zu überspringen. Im nächsten Augenblick hatte er sein langes Schwert gezogen, aber die scharfe Klinge prallte an dem weichen Kiefernholz ab wie an Stahl.
Der Rückschlag war so mächtig, daß eine Schockwelle durch seine Hand und sein Armgelenk schoß. Er hob sein Schwert und untersuchte seine im Mondlicht schimmernde Schneidefläche. Das Tor war tatsächlich zu hart. Es mußte wohl so sein, daß sein Meister es mit der Kraft seines eigenen Geistes verstärkt hatte. Es war verschlossen, und niemand durfte es passieren. So wollte es der Meister. Der Ritter seufzte tief. Er schob sein Schwert zurück in die Scheide und ließ sich außerhalb des Tores auf einem großen Felsen nieder.
Vor sieben Jahren, am Tag, an dem er den Berg verlassen hatte, hatte ihn sein Meister einen Augenblick lang wortlos angesehen. Seine Augen waren voller Güte, und noch etwas war darin, etwas, das aussah wie Mitleid. Er konnte nur schweigend den Kopf senken, als sein Blick dem mitfühlenden und verständnisvollen Blick seines Meisters begegnete. Kurz darauf sagte der alte Mann zu ihm: „Du kannst nicht für immer an meiner Seite bleiben. Früher oder später mußt du den Berg hinunter in die Welt gehen, wo du viel Gelegenheit haben wirst, den Weg zu leben und Menschen zu helfen. Ich dachte, ich könnte dich vielleicht noch ein wenig länger hierbehalten, aber wenn es dein Wille ist zu gehen, mein Kind, dann geh in Frieden. Nur eins noch: Denke immer daran, was ich dich gelehrt und dir gegeben habe, immer. Da unten in der Welt am Fuß dieses Berges wirst du alles davon brauchen.“ Dann war sein Meister noch einmal kurz durchgegangen, was er vermeiden, suchen, lassen und ändern sollte. Schließlich hatte er ihm freundlich die Hand auf die Schulter gelegt: „Dies sind die Richtlinien für dein Handeln. Tu niemals irgend etwas, das für dich selbst oder andere Leiden verursachen könnte, sei es in der Gegenwart oder in der Zukunft. Und geh ohne Angst den Weg, von dem du glaubst, daß er dich und andere zur vollkommenen Erleuchtung führt. Denke immer an die Maßstäbe, an denen Glück und Leid, Illusion und Befreiung zu messen sind. Ohne sie würdest du den Weg selbst verraten, nicht zu reden von deiner Aufgabe, der Welt zu helfen!
Ich habe dir mein kostbares Schwert bereits gegeben. Nutze es, um Dämonen und böse Geister zu unterwerfen. Aber ich möchte, daß du es eher wie eine scharfe Klinge betrachtest, die aus deinem eigenen Herzen kommt und mit der du deinen eigenen Ehrgeiz und deine eigenen Wünsche unterwirfst. Nun habe ich auch noch dies hier für dich, es wird dir deine Aufgabe erleichtern.“ Dann hatte der Meister aus seinem weiten Ärmel ein kleines Schauglas gezogen und es ihm hingehalten.
„Dies ist das Me-Ngo-Glas“, hatte er gesagt. „Es wird dir helfen, das Gute vom Bösen, das Tugendhafte vom Verdorbenen zu unterscheiden. Es wird auch Dämonenseher genannt, denn wenn du hindurchschaust, wirst du die wahren Gestalten der Dämonen, bösen Geister und dergleichen sehen...“ Er hatte das legendäre Schauglas aus der Hand seines Meisters entgegengenommen, aber er war so dankbar und so tief bewegt gewesen, daß er kein einziges Wort hervorbringen konnte. Am folgenden Tag, bei Anbruch der Dämmerung, ging er hinauf in die Haupthalle, um sich von seinem alten Meister zu verabschieden. Der alte Mann begleitete ihn den Berg hinunter, den ganzen Weg bis zum Tigerfluß, und dort, inmitten des Gemurmels des Gebirgsflusses, sagten sich Meister und Schüler Lebewohl. Wieder legte der Meister ihm eine Hand auf die Schulter und sah in seine Augen. Er sah ihm noch nach, als der junge Mann sich zum Gehen umgedreht hatte. Noch einmal rief er seinem Schüler nach: „Denk daran, mein Kind, Armut kann dich nicht schwächen, Reichtum dich nicht verführen, Macht dich nicht unterwerfen. Ich werde dich hier erwarten an dem Tag, an dem du zurückkehrst und deine Gelübde erfüllt hast!“ An die ersten Tage seiner Reise erinnerte er sich noch lebhaft.
Dann zogen Monate und Jahre an seinem inneren Auge vorbei. Wie sich ihm die Menschheit in verschiedenen Verkleidungen gezeigt hatte! Und welch wertvolle Dienste ihm das Schwert und das Me-Ngo-Schauglas geleistet hatten! Einmal war er einem Priester begegnet, von äußerst achtunggebietender Erscheinung, der - welch eine Ehre für den jungen Ritter ihn in seine Klause eingeladen hatte, um, wie der weise Alte sagte, „zu besprechen, wie sie am besten zusammenarbeiten könnten, um ihren Mitmenschen zu helfen“. Zuerst lauschte der junge Mann hingerissen, aber dann kam ihm irgend etwas an dem Priester seltsam vor. Er wischte das Me-Ngo blank und sah hindurch. Ein gigantischer Dämon saß da vor ihm! Aus seinen blauen Augen stoben knisternd Funken, auf der Stirn wuchs ihm ein Horn, und seine Fänge waren so lang wie seine eigenen Arme! Mit einem Satz wich der junge Mann zurück, zog sein Schwert und griff den Dämon heftig an. Der Dämon focht zurück, hatte aber natürlich keine Chance. Er warf sich dem jungen Mann zu Füßen und bat um Gnade. Der Ritter nahm ihm daraufhin den Eid ab, dahin zurückzukehren, woher er gekommen war, den Weg zu studieren und zu beten, daß er eines Tages als wahres menschliches Wesen in die Welt der Menschen zurückkehren könne, und sich niemals wieder als Priester zu verkleiden, um Unschuldige zu betören und ins Unglück zu stürzen. Ein anderes Mal begegnete er einem Mandarin, einem alten Mann mit einem langen weißen Bart.
Es war eine glückliche Begegnung zwischen einem jungen Helden, der ausgezogen war, die Welt zu retten, und einem hohen Beamten, „Vater und Mutter des Volkes“, der sich der Aufgabe gewidmet hatte, immer noch bessere Wege zur Regierung und zum Wohl der Massen zu finden. Wieder meldete sich der Instinkt des jungen Mannes: Unter dem Me-Ngo entpuppte sich der stattliche, ehrfurchteinflößende alte Beamte als riesiges Mastschwein, dessen Augen vor Gier förmlich trieften. In Sekundenschnelle flog das Schwert aus seiner Scheide. Das Schwein versuchte zu entkommen, aber der Ritter überholte es mit einem Satz. Mit gespreizten Beinen auf der Eingangsschwelle des Mandarinpalastes stehend, versperrte er den einzigen Fluchtweg. Und auch diesmal verließ der junge Mann das Untier nicht, ohne ihm das heilige Versprechen abzunehmen, daß es dem Weg folgen und niemals wieder die Gestalt eines Mandarins annehmen würde, um das Fleisch des Volkes zu verzehren und dessen Blut zu trinken.
Und dann war da jene Zeit, wo er, über einen Markt schlendernd, eine Menschenmenge sah, die einen Bücherstand umringte. Bilder- und Bücherverkäufer war eine sehr schöne junge Frau, deren Lächeln wie eine erblühende Blume war. Daneben saß eine andere junge Frau, ebenfalls atemberaubend schön, die leise, melodiöse Weisen sang und dabei die Saiten einer Laute zupfte. Die Schönheit der Mädchen und die Anmut der Lieder nahmen alle der Umstehenden so gefangen, daß niemand den Stand wieder verließ, wenn er erst einmal stehengeblieben war, und jeder konnte nur stehen und lauschen, verzaubert, und die Bilder und Bücher kaufen. Der junge Mann fühlte sich ebenfalls angezogen von der Szene.
Schließlich ging er näher und nahm eines der Bilder auf. Er war ganz überwältigt von der anmutigen Linienführung und den lebhaften Farben. Und doch war ihm irgendwie nicht wohl dabei. Er griff nach dem Me-Ngo. Die beiden schönen Mädchen waren in Wirklichkeit zwei riesige Schlangen, deren Zungen wie Messerklingen vor- und zurückschnellten! Mit einer einzigen Armbewegung fegte der Ritter alle Zuhörer beiseite und rief mit Donnerstimme, sein Schwert auf die Monster gerichtet: „Dämonen! Zurück in eure unheilvolle Natur!“ Die Menge zerstreute sich ängstlich. Die riesigen Schlangen gingen auf den jungen Mann los, aber sobald das berühmte Schwert einige surrende Kreise um ihre Körper gezogen hatte, rollten sie sich in Unterwerfung vor seinen Füßen zusammen. Er zwang ihre Kiefer auf und schnitt mit seinem Schwert ihre giftgefüllten Eckzähne heraus. Dann setzte er mit einer Fackel den Bücherstand in Brand und schickte die Monster zurück in ihre Behausungen, nicht ohne ihnen unter Androhung, sie völlig zu vernichten, das heilige Versprechen abgenommen zu haben, niemals wieder zurückzukommen und die Dorfleute zu verhexen.
So zog der junge Ritter also von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt auf seiner selbstgewählten Mission und gebrauchte die Waffe und das Schauglas, die beiden Dinge, die ihm sein Meister zusammen mit unschätzbaren Ratschlägen gegeben hatte. Voller Eifer stürzte er sich in seine Aufgabe. Seit einiger Zeit nannte er sich in Gedanken den unentbehrlichen Ritter.
Ohne ihn konnte die Welt nicht auskommen. Er war vom Berg herabgestiegen in die Welt, und er nahm vollen Anteil am Leben hier unten. Konfrontiert mit einer Welt, in der Verrat und Tücke herrschten, mußte er Flexibilität und Geduld lernen, und manchmal mußte er auch mit den Wölfen heulen, weil es sein Ziel war, zu überwinden und zu überzeugen. Es bereitete ihm große Freude, für das Gute zu kämpfen. Es kam sogar so weit, daß er vergaß, zu essen und zu trinken. Und noch mehr tat er, noch viel mehr, weil er aus der Verfolgung seines Zieles - den Menschen zu helfen - so viel Freude und Befriedigung zog, weniger um des Zieles selbst willen. Er diente, weil ihn dieses Dienen erfüllte, nicht unbedingt, weil die Menschen ihn brauchten.
So vergingen sieben Jahre. Eines Tages, als er sich am Ufer eines Flusses ausruhte und auf das langsam vorbeifließende Wasser schaute, wurde ihm plötzlich klar, daß er das Me-Ngo-Schauglas nun schon geraume Zeit nicht mehr benutzt hatte. Und ihm wurde auch klar, daß er es keineswegs vergessen hatte, sondern daß ihm einfach nicht danach gewesen war, es zu benutzen. Dann erinnerte er sich anderer Zeiten, wo er das Glas zwar benutzt hatte, aber nur sehr widerwillig. In jenen Tagen, als er gerade vom Berg hinabgestiegen war, kämpfte er bis auf den Tod, wann immer er durch das Me-Ngo die wahre Natur all des Bösen sah, das ihm begegnete. Er erinnerte sich dar an, wieviel Freude es ihm jedesmal bereitet hatte, wenn er durch das Glas das Abbild eines tugendhaften Menschen oder eines wahren Weisen sah. Aber offensichtlich war in letzter Zeit irgend etwas Seltsames mit ihm geschehen, und er wußte nicht, was. Es schien ihm, daß er gar keine große Freude mehr empfand, wenn er durch das Schauglas einen Weisen erblickte, ebenso wie er keine große Wut mehr empfand, wenn er die Abbilder von Monstern und Teufeln erblickte. Und wenn unter seinem Zauberglas Dämonen sichtbar wurden, konnte der junge Ritter nicht umhin festzustellen, daß sogar in ihren schreckenerregenden unmenschlichen Zügen etwas eigenartig Vertrautes lag.
Das Me-Ngo war sicher in seiner Tasche verwahrt, obwohl er es lange Zeit nicht benutzt hatte. Dann dachte der junge Ritter, daß er eines Tages wieder auf den Berg zurückkehren und den Rat seines Meisters erbitten würde: Warum hatte er solche Widerstände, etwas zu benutzen, das ihm doch offensichtlich so sehr geholfen hatte? Aber erst am zwölften Tag des achten Monats, als er einen Wald mit weißblühenden Pflaumenbäumen durchquerte und von den schneeweißen, unter dem Herbstmond schimmernden Blüten angerührt wurde, sehnte er sich plötzlich nach jenen Tagen, da er als junger Mann bei seinem alten Meister studiert hatte, dessen Hütte am Rand eines ebensolchen alten Pflaumenhains lag. Erst da beschloß er zurückzukehren. Sein Wunsch, den Meister zu sehen, ließ ihm die Reise endlos erscheinen: sieben Tage und sieben Nächte lang Hügel erklimmen und Ströme durchqueren. Aber als er den Fuß des hohen Berges erreichte, von wo er den Aufstieg zur Einsiedelei seines Meisters beginnen würde, senkte sich bereits die Dunkelheit herab. Der aufgehende.
Mond beleuchtete die fest geschlossenen Flügel des schweren Kieferntors, das ihn hinderte, den Berg weiter hinaufzusteigen.
Er konnte nichts anderes tun als warten. Wenn der Morgen dämmerte, dachte er, würde einer seiner „Brüder“ bestimmt herunterkommen, um Wasser aus dem Fluß zu schöpfen, und könnte ihm dann das Tor öffnen. Mittlerweile hatte der Mond seinen Höchststand bereits überschritten. Der ganze Berg und der Wald waren in sein kühles Licht getaucht. Als die Nacht weiter voranschritt, wurde die Luft noch eisiger. Er zog sein Schwert aus der Scheide und sah zu, wie der Mond auf seiner kalten, scharfen Klinge schimmerte. Dann steckte er es wieder in die Scheide zurück und stand auf. Der Mond schien außergewöhnlich hell. Der Berg, der Wald, alles um ihn herum alles war still und ruhig, als ob die Welt seine Gegenwart mit völliger Nichtbeachtung strafte. Er fühlte sich zurückgewiesen und ließ sich auf einen anderen Felsen fallen. Erneut zogen die sieben Jahre seines jüngsten Lebens an ihm vorbei. Langsam, ganz langsam, bewegte sich der Mond auf den entfernten Gipfel eines fernen Berges zu. Die Sterne am Himmel leuchteten hell, aber dann begannen auch sie sich zurückzuziehen und wurden blasser und blasser. Im Osten war schon die Andeutung eines Glühens zu sehen. Die Umrisse des Berges hoben sich plötzlich schärfer gegen den blassen Himmel ab. Gleich würde die Dämmerung anbrechen.
Der Ritter hörte trockene Blätter rascheln. Er sah auf und erblickte den undeutlichen Umriß eines Menschen, der den Berg herabgestiegen kam. Er dachte, es müsse wohl einer seiner jüngeren „Brüder“ sein, obwohl es noch nicht hell genug war und die Gestalt noch zu weit entfernt war, um ihre Züge auszumachen. Es mußte ein »Bruder« sein, weil er so etwas wie einen großen Krug trug. Wer immer es war, er kam näher und näher, und der Ritter hörte ihn schließlich freudig ausrufen: „Älterer Bruder!“ „Jüngerer Bruder!“ „Wann bist du angekommen? Gerade eben?“
„Nein, eigentlich bin ich angekommen, als der Mond gerade aufstieg! Ich habe die ganze Nacht hier unten gewartet. Warum in Gottes Namen hat jemand das Tor so verbarrikadiert? War es auf Befehl des Meisters?“ Der jüngere Schüler hob lächelnd seine Hand und zog, ganz sanft, an dem schweren Tor. Es schwang mit Leichtigkeit auf.
Er trat heraus und sah den Älteren an, während er ihm seine Hände reichte.
„Du mußt ja bis auf die Knochen durchgefroren sein, wenn du die ganze Nacht hier unten gewartet hast! Du bist ja völlig mit Tau bedeckt! Nun ja, ich habe immer den ganzen Tag hier unten verbracht, habe Kräuter gepflückt und das Tor bewacht, weißt du ... Wenn ich der Meinung war, jemand verdiene eine Audienz beim Meister, habe ich ihn hinaufgeführt, und wenn nicht, habe ich mich einfach unsichtbar gemacht! Ich versteckte mich dann hinter den Büschen, und sie gaben irgendwann auf. Weißt du, der Meister will niemanden sehen, der nicht wirklich entschlossen ist zu lernen. Kürzlich erlaubte mir dann der Meister, mich weiterführenden Studien zuzuwenden, und da ich jetzt die meiste Zeit oben in der Klause verbringe, sagte er mir, ich solle das Tor schließen. Er sagte, es würde sich tugendhaften Menschen von selbst öffnen, denjenigen jedoch, die den Staub der Welt mit sich bringen, würde es verschlossen bleiben und ihnen den Weg versperren. Niemand kann es jemals erklettern oder überspringen, besonders diejenigen nicht, die mit den Geistern von Dämonen und ähnlichem belastet sind!“ Der Ritter runzelte die Stirn: „Würdest du sagen, daß ich so jemand bin? Würdest du das? Warum blieb mir das Tor verschlossen?“ Der jüngere Mann lachte herzlich: „Aber natürlich nicht! Wie könntest du wohl so jemand sein? Auf jeden Fall können wir jetzt hinaufsteigen, wie du siehst, ist der Weg frei. Aber einen Augenblick noch, älterer Bruder! Ich muß zuerst etwas Wasser holen! Lächle doch, Bruder, lächle! Auf wen bist du wütend?“ Die beiden Männer lachten. Sie gingen zum Fluß hinunter. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber im Osten schimmerte es bereits hell. Die beiden Schüler konnten jetzt jede Linie im Gesicht des anderen ganz deutlich sehen. Das Wasser war von der Morgenröte blaßrosa überhaucht. Sie erkannten ihre Spiegelbilder darin: der Ritter kühn und stark in seiner Rüstung, das lange Schwert quer über den Rücken geschnallt; die Gestalt des jüngeren Schülers, sanfter in dem fließenden Dienergewand mit dem Krug in den Händen. Ohne ein Wort zu sagen, schauten beide ihr eigenes Spiegelbild an und lächelten einander zu. Eine Wasserspinne sprang hoch, und die rosiggetönte Wasseroberfläche kräuselte sich, so daß ihre Spiegelbilder von Tausenden von Wellenmustern überzogen wurden.
„Wie wunderschön! Bestimmt würde ich unsere Spiegelbilder endgültig zerstören, wenn ich den Krug jetzt eintauchte. Übrigens, hast du das Me-Ngo-Scllauglas noch? Der Meister gab es dir doch, als du vor Jahren den Berg hinabstiegst!“ Der Ritter erkannte, daß er das Schauglas all die Jahre tatsächlich nur benutzt hatte, um andere anzusehen, nicht einmal hatte er sich sein eigenes Abbild angeschaut! Er zog das Glas heraus, wischte es an seinem Ärmel ab und richtete es auf die Wasseroberfläche. Die beiden Köpfe kamen nah zusammen, um gemeinsam durch die kleine Linse zu schauen.
Ein gellender Schrei entfuhr den Kehlen der beiden jungen Männer. Er hallte im Wald wider. Der Ritter fiel vornüber und brach am Ufer des Flusses zusammen. Ein Hirsch, der weiter flußaufwärts trank, sah furchtsam auf.
Der jüngere Schüler konnte nicht glauben, was er durch das Glas gesehen hatte. Da stand er in seinem fließenden Gewand, einen Krug in der Hand, neben einem riesigen Dämonen, mit Augen so tief und dunkel wie tiefliegende Brunnen und langen Hauern, die sich um seine eckigen Kinnladen bogen. Ja, er sah die Gesichtsfarbe des Dämonen. Ein bläuliches Grau war es, die Farbe von Asche und Tod. Den jungen Mann schauderte; er rieb sich die Augen und sah erneut den Älteren an, der nun bewußtlos auf den blauen Steinen am Flußufer lag. Schock und Entsetzen standen ihm noch immer im Gesicht geschrieben; diesem Mann, der sieben Jahre lang mutig der grausamen Welt am Fuß ihrer Bergeinsiedelei getrotzt hatte, hatte sich das Leid in die Züge gegraben.
Der junge Schüler eilte zum Fluß, um Wasser zu holen und das Gesicht des Älteren damit zu benetzen. Augenblicke später kam der Ritter wieder zu sich. Sein Gesicht war von Verzweiflung verwüstet. Sein wahres Abbild war im Me-Ngo so unerwartet erschienen; es hatte ihm auf so schockierende und brutale Weise Selbsterkenntnis gebracht, daß er unter dem Schlag nur zusammenbrechen konnte. All seine Energie schien ihn verlassen zu haben. Er versuchte aufzustehen, aber er hatte keine Kraft in seinen Beinen und Armen. „Ist schon gut, ist schon gut, Bruder! Wir gehen jetzt hinauf.“ In den Ohren des Ritters klang die Stimme seines Bruders wie das kaum wahrnehmbare Geräusch einer zarten Brise, ein schwaches Murmeln aus der Ferne. Er schüttelte den Kopf.
Seine Welt war zusammengebrochen, er wollte nicht länger leben. Er fühlte sich, als seien sein Körper und seine Seele von einem Wirbelsturm hinweggefegt worden. Er konnte sich nicht vorstellen, seinem geliebten Meister jemals wieder unter die Augen zu treten.
Der jüngere Mann fegte den Sand von den Schultern seines Bruders: „Aber nein, mach dir deshalb keine Sorgen. Du weißt, daß der Meister nichts als Mitgefühl für dich hat. Laß uns jetzt hinaufgehen. Wir werden wieder zusammen leben und arbeiten und studieren...“ Langsam gingen die beiden Gestalten den steinigen steilen, gewundenen Pfad den Berg hinauf. Der Tag war noch nicht angebrochen. Die Silhouetten zeichneten sich in dem dünnen Schleier aus Tau ab, der Bäume und Felsen überzog. Schließlich fielen die ersten Sonnenstrahlen auf die bei den Männer und verschärften den Kontrast: Der Ritter schien noch gebrochener an Körper und Geist, wie er neben dem jüngeren Schüler ging, dessen Schritte fest und dessen Miene sanft war.
Über dem Berggipfel in der Ferne ging die Sonne auf.

Anmerkung:
Im Fernen Osten (China, Japan, Korea, Vietnam) gab es eine alte Tradition, der zufolge sich weise alte Männer (taoistische Mönche oder buddhistische Priester) auf Berggipfel zurückzogen, wo sie Einsiedeleien bauten, die meist „Steingrotten“ oder „Grashütten“ genannt wurden. Sie nahmen einige auserwählte Schüler an und lehrten sie den „Weg“. Außer auf geistig-spirituelle Studien wurde großer Wert auf Kriegskünste mit gewaltfreier Tradition gelegt. Die alten Meister brachten ihren Schülern die Kunst des Schwert-, Stabkampfes, Joga, Judo, Karate, Kung Fu und andere Fertigkeiten bei und schickten sie dann hinunter in die Weh. Die Schüler wurden entweder nach der Reihenfolge ihrer Aufnahme beim Meister eingestuft oder nach Alter oder nach ihren Fähigkeiten. Sie nannten einander „Älterer Bruder“ oder „Jüngerer Bruder“.
Die „Gurus“ wurden su-phu genannt: Meister-Vater.

Hanh, Thich Nhat; Der Mondbambus; Knaur Verlag München 2001; ISBN 3-426-87142-4; S. 179 - 190

Tobermory

Tobermory

Es war ein kühler, regnerischer Nachmittag im Spätaugust, jener nichtssagenden Jahreszeit, in der die Rebhühner noch in Sicherheit oder im Kühlhaus sind und es nichts zum Jagen gibt - sofern man nicht im Norden an den Bristolkanal angrenzt, was einem das Recht verschafft, hinter fetten Rothirschen herzugaloppieren. Lady Blemleys Hausgesellschaft grenzte im Norden nicht an den Bristolkanal, so dass sich ihre Gäste an diesem Nachmittag vollzählig um den Teetisch versammelt hatten. Und trotz der Ereignislosigkeit der Saison und des bedeutungslosen Anlasses zeigte die Gesellschaft keine Spur jener dumpfen Unruhe, die Furcht vor dem Pianola und unterdrückte Sehnsucht nach Auktionsbridge bedeutet. Die unverhohlenen Neugier der staunenden Runde konzentrierte sich auf die farblos hausbackene Personen von Mr. Cornelius Appin. Von allen Gästen Lady Blemleys eilte ihm der unbestimmteste Ruf voraus. Jemand hatte in als ‚geistreich‘ bezeichnet, und er verdankte seine Einladung der bescheidenen Erwartung seiner Gastgeberin, er werde zumindest irgendeinen Teil seiner Geistesgaben zur allgemeinen Erbbauung beisteuern. Bis zur Teestunde dieses Tages hatte sie jedoch nicht entdecken können, auf welchem Gebiet, sofern überhaupt, seiner Geistesgaben lagen. Er war weder ein witziger Plauderer noch ein Krocketchampion, er verfügte weder über hypnotische Kräfte noch inszenierte er Laienspiele. Und auch sein Äußeres deutete nicht auf die Sorte Mann hin, bei der Frauen ein gerüttelt Maß intellektueller Unzulänglichkeit zu tolerieren bereit sind. Er war zum bloßen Mr. Appin herabgesunken, und der Cornelius schien allenfalls ein durchsichtiger Taufbluff zu sein. Und nun behauptete dieser Mann, der Welt eine Entdeckung beschwert zu haben, neben der sich Erfindungen wie das Schießpulver, die Druckerpresse und die Dampfmaschine als unbedeutende Belanglosigkeiten ausnahmen. Die Wissenschaft hatte in den letzten Jahrzehnten atemberaubende Fortschritte auf vielen Gebieten gemacht, aber das hier schien doch eher in den Bereich des Wunders als den wissenschaftlicher Errungenschaften zu gehören.
„Und sie wollen uns wirklich weismachen“, sagte Sir Wilfrid, „dass sie eine Methode entwickelt haben, Tieren die Kunst menschlicher Sprache beizubringen, und dass der gute alte Tobermory sich als ihr erster erfolgreicher Schüler erwiesen habe?“
„An diesem Problem habe ich die Letzten siebzehn Jahre gearbeitet“, sagte Mr. Appin, „aber erst in den letzten acht oder neun Monaten wurde ich mit ersten Erfolgsschimmern belohnt. Natürlich habe ich mit Tausenden von Tieren experimentiert, aber in letzter Zeit nur noch mit Katzen, jenen wundervollen Geschöpfen, die sich so vollendet unserer Zivilisation angepasst und doch alle ihre hoch entwickelten wilden Instinkte bewahrt haben. Hier und da trifft man bei Katzen auf einen herausragend überlebenden Verstand, gerade sowie bei dem Gros der Menschen, und als ich Tobermory vor einer Woche kennen lernte, war mir sogleich klar, dass ich es mit einem Super-Kater von außergewöhnlicher Intelligenz zu tun hatte. Ich war mit meinen Experimenten auf dem Weg zum Erfolg ein gutes Stück vorangekommen; mit Tobermory, wie Sie ihn nennen, habe ich das Ziel erreicht.“
Mr. Appin schloss seiner bemerkenswerten Ausführungen mit einer Stimme, die er von triumphierendem Beiklang freizuhalten suchte. Niemand sagte ‚Mumpitz‘, obwohl Clovis‘ Lippen sich in einer Weise spitzten, als wollte Ihnen dieser Ausdruck gesunder Skepsis entschlüpfen.
„Sie behaupten also“, sagte Miss Resker nach einer kleinen Pause, „dass Sie Tobermory beigebracht haben, einfache Sätze aus einsilbigen Worten zusprechen und zu verstehen?“
„Meine liebe Miss Resker“, sagte der Wundertäter geduldig, „kleine Kinder und Wilde und zurückgebliebene Erwachsene unterrichtet man derart bröckchenweise; wenn man das Problem, mit einem Tieren von hochentwickelter Intelligenz einen Anfang zu finden, erst einmal gelöst hat, bedarf es solcher Krücken nicht. Tobermory beherrscht unsere Sprache absolut fehlerfrei.“
Diesmal sagte Clovis deutlich vernehmbar „Super-Mumpitz!“ Sir Wilfrid war höflicher, aber nicht minder skeptisch.
„Sollten wir nicht lieber den Kater hereinholen und uns selbst ein Urteil bilden?“ schlug Lady Blemley vor.
Sir Wilfrid ging das Tier suchen und die Hausgäste machten es sich in der trägen Erwartung bequem, Zeugen mehr oder weniger gelungenen Salon-Bauchredens zu werden.
Eine Minute später war Sir Wilfrid zurück, sein Gesicht weiß unter der Sonnenbräune und seine Augen vor Aufregung geweitet.
„Himmelherrgott, es ist wahr!“
Seiner Erregung war unverkennbar echt und seine Zuhörer fuhren mit einem Schauer plötzlich erwachten Interesses hoch.
Erließ sich in einem Arm Sessel fallen und fuhr atemlos fort: „ich fand ihn schlummernd im Rauchzimmer und rief ihn zum Tee. Er blinzelte mich an, wie es seiner Art ist, und ich sagte:‘Komm schon, Toby, lasst uns nicht warten‘; und dann, Himmelherrgott, dann sagte er gedehnt mit einer erschreckend natürlichen Stimme, dass er käme, wenn es ihm verdammtnochmal in den Kram passte! Es hat mich beinahe umgehauen!“
Appin hatte absolut ungläubigen Hörern gepredigt; Sir Wilfrids Erklärung fand sofort Glauben. Ein babylonisches Gewirr verblüffter Ausrufe erhob sich, inmitten dessen der Wissenschaftler stumm saß und die ersten Früchte seiner überwältigenden Entdeckung genoss.
Mitten in dem Tumult betrat Tobermory den Raum und bahnte sich samtpfotig und mit betonter Gleichgültigkeit seinen Weg zu der Gruppe, die um den Teetisch saß.
Ein plötzliches Schweigen befangener Verlegenheit befiel die Gesellschaft. Irgend etwas schien daran peinlich zu sein, einen Hauskater von anerkannten Geistesgaben wie seinesgleichen anzureden.
„Möchtest du etwas Milch, Tobermory?“ fragte Lady Blemley mit ziemlich gezwungener Stimme.
„Ich hätte nichts dagegen“, war die gleichgültig hingeworfene Antwort. Ein Schauer unterdrückter Erregung in durchfuhr die Zuhörer, und Lady Blemley war nicht zu verübeln, dass sie die Milch recht unsicher in die Untertasse goss.
„Ich fürchte, ich habe einiges verschüttet“, sagte sie entschuldigend.
„Na ja, es ist ja nicht mein Axminsterteppich“, war Tobermorys Kommentar.
Wieder verfiel die Runde in Schweigen, und dann fragte Miss Resker in bester Gemeindeschwesterart, ob die menschlicher Sprache schwer zu erlernen gewesen sei. Tobermory sah sie einen Augenblick direkt an und blickte dann stillvergnügt ins Leere. Es war offensichtlich, das langweilige Fragen außerhalb seiner Interessensphäre lagen.
„Was halten Sie von der menschlichen Intelligenz?“ Fragte Mavis Pellington lahm.
„Wessen Intelligenz im Besonderen?“ Fragte Tobermory kühl.
„Nun je, meine z. B.“, sagte Mavis mit unsicheren Lachen.
„Sie bringen mich in arge Verlegenheit“, sagte Tobermory, dessen Ton und Haltung alles andere als verlegen waren. „Als das Gespräch darauf kam, Sie zu dieser Hausgesellschaft einzuladen, protestierte Sir Wilfrid, Sie seien das hirnloseste Frauenzimmer, das ihm je begegnet sei, und zwischen Gastfreundschaft und der Fürsorge für Geistesschwache sei schließlich ein himmelweiter Unterschied. Lady Blemley erwiderte, ihr Mangel an Denkvermögen sei genau die Eigenschaft, die Ihnen die Einladung einbringen werde, denn außer Ihnen falle ihr niemand ein, der dumm genug sein könnte, ihren alten Wagen zu kaufen. Den, den sie den ‚Neid des Sisyphus‘ nennen, wissen Sie, weil er recht manierlich den Berg hochkommt, wenn man ihn schiebt.“
Lady Blemleys Beteuerungen hätten überzeugender gewirkt, wenn sie Mavis nicht just an diesem Morgen beiläufig zu verstehen gegeben hätte, das fragliche Auto sei genau das Richtige für Sie daheim in Devonshire.
Major Barfield warf sich mit einem kühlen Ablenkungsmanöver in die Bresche.
„Wie geht es denn so mit Ihrem Techtelmechtel mit der Schildpatt-Mieze oben bei den Ställen voran?“
Kaum hatte er das gesagt, als jedermann den Fauxpas erkannte.
„Darüber pflegt man in der Öffentlichkeit gemeinhin nicht zusprechen“, sagte Tobermory frostig. „Aufgrund flüchtiger Beobachtung Ihres Treibens seit ihrer Ankunft hier im Hause könnte ich mir vorstellen, dass es Ihnen auch nicht angenehm wäre, wenn ich die Unterhaltung auf Ihre eigenen kleinen Affären lenkte.“
Die nun folgende Panik beschränkte sich nicht auf den Major.
„Möchtest du nicht mal nachsehen, ob die Köchin dein Essen fertig hat?“ Schlug Lady Blemley hastig vor und tat, als wisse sie nicht, dass es noch mindestens zwei Stunden bis zu Tobermorys Essenzzeit waren.
„Danke nein“, sagte Tobermory, „nicht gleich nach dem Tee. Ich möchte nicht an Magenverstimmung sterben.“
„Katzen haben neun Leben, weißt du“, sagte Sir Wilfrid jovial.
„Möglich“, erwiderte Tobermory, „aber nur eine Leber.“
„Adelaide!“ sagte Mrs. Cornett, „du willst diesen Kater doch nicht etwa ermuntern, hinauszugehen und in der Gesindestube über uns zu tratschen?“
Die Panik hatte nun in der Tat die ganze Gesellschaft erfasst. Eine schmale Zierbalustrade führte vor den meisten Schlafzimmerfenster von The Towers vorbei und man erinnerte sich mit Entsetzen daran, dass diese zu jeder Tages- und Nachtzeit eine bevorzugte Promenade für Tobermory gewesen war, von der aus er die Tauben beobachten konnte - und der Himmel mochte wissen, was sonst noch. Wenn er vor hatte, in diesem freimütigen Stil Erinnerungen preiszugeben, wären die Folgen mehr als nur beunruhigend. Mrs.Cornett, die viel Zeit vor ihrem Toilettentisch verbrachte und deren Teint in dem Ruf stand, ebenso häufigem wie pünktlichem Wechsel unterworfen zu sein, sah ebenso unglücklich aus wie der Major. Miss Scrawen, die Verse von ungestümer Sinnlichkeit schrieb und ein untadeliges Leben führte, zeigte sich lediglich verärgert; wenn man im Privatleben methodisch und sittsam ist, will man noch lange nicht, dass ein jeder das weiß. Bertie van Tahn, der mit 17 schon so durchtrieben war, dass er den Versuch, es noch länger zu treiben, schon seit längerer Zeit hatte aufgeben müssen, nahm eine fahle, gardeniaweiße Färbung an, beging aber nicht den Fehler, aus dem Zimmer zu stürzen wie Odo Finsberry, ein junger Gentleman, der dem Vernehmen nach Theologie studierte und den möglicherweise der Gedanke, von anderer Leute Skandalen hören zu müssen, verstört hatte. Clovis war so geistesgegenwärtig, ein gelassenes Äußeres zu bewahren; im Stillen rechnete er nach, wie lange es dauern würde, durch eine Annonce im Exchange and Mart eine Schachtel Delikateßmäuse als eine Art Schweigegeld zu beschaffen.
Selbst in einer so heiklen Situation wie dieser konnte Agnes Resker es nicht ertragen, allzu lange im Hintergrund zu bleiben.
„Warum bin ich bloß hierhergekommen?“ fragte sie theatralisch.
Tobermory griff das Stichwort sogleich auf.
„Nach dem zu urteilen, was sie gestern auf dem Krocketrasen zu Mrs. Cornett gesagt haben, waren sie aufs Essen aus. Sie bezeichneten die Blemleys als die langweiligsten Gastgeber, die Sie kennen, räumten aber ein, sie seien klug genug, eine erstklassige Köchin zu beschäftigen; andernfalls hätten sie Schwierigkeiten, irgend jemanden ein zweites Mal herzubekommen.“
„Davon ist kein Wort wahr! Mrs. Cornett, ich beschwöre Sie...“ rief die aus der Fassung gebrachte Agnes entgeistert aus.
„Mrs. Cornett wiederholte ihre Bemerkung anschließend gegenüber Bertie van Tahn ", fuhr Tobermory fort, „und sagte: diese Frau ist das, was ich eine eingefleischte Kostgängerin nennen würde: für vier anständige Mahlzeiten am Tag ginge sie überallhin; und Bertie van Tahn sagte...“
An diesem Punkt fand die Chronik ein gnädiges Ende. Tobermory hatte einen flüchtigen Blick von dem großen gelben Kater vom Pfarrhaus erhascht, der sich durch das Strauchwerk zu den Stallungen schlich. Wie der Blitz war er durch die offene Terrassentür verschwunden.
Nach dem Abgang seines allzu brillanten Schülers brach über Cornelius Appin ein Wirbelsturm bittere Vorwürfe, besorgter Fragen und angstvoller Beschwörungen herein. Die Verantwortung für die Situation lag bei ihm, und ihm oblag es, Schlimmeres zu verhüten. Ob Tobermory seine bedrohliche Gabe anderen Katzen mitteilen könne, war die erste Frage, mit der man ihn bedrängte. Es könne durchaus sein, erwiderte er, dass Tobermory seine Intimfreundin, die Stallkatze, in seine neue Fähigkeit eingeweiht habe, aber es sei unwahrscheinlich, dass seine Lehrtätigkeit bis jetzt weitere Kreise gezogen habe.
„Nun“, sagte Mrs. Cornett, „Tobermory mag ein nützlicher Kater und ein großartiger Hausgenosse sein; aber sie werden mir zweifellos zustimmen, Adelaide, dass sowohl er als auch die Stallkatze unverzüglich beseitigt werden müssen.“
„Meinen Sie etwa, wir hätten die letzte Viertelstunde genossen?“ Sagte Lady Blemley erbittert. „Mein Mann und ich hängen sehr an Tobermory - zumindest hingen wir sehr an ihm, bevor ihm diese furchtbare Fähigkeit eingetrichtert wurde; aber jetzt führt natürlich kein Weg daran vorbei, ihn so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen.“
„Wir könnten etwas Strychnin an die Speisereste tun, die er abends immer vorgesetzt bekommt“, sagte Sir Wilfrid, „und ich werde die Stallkatze eigenhändig ersäufen. Der Kutscher wird recht ungehalten sein, sein Lieblingstier zu verlieren, aber ich werde ihm erklären, bei beiden Katzen sei eine höchst ansteckende Art von Räude ausgebrochen, und wir hätten befürchtet, dass sie auf den Zwinger hätte übergreifen können.“
„Aber meine große Entdeckung!“ beschwor ihn Mr. Appin, „nach all den Jahren des Forschens und Experimentierens...“
„Sie können meinetwegen mit den Kurzhornrindern auf der Farm experimentieren, die man vernünftig unter Kontrolle hat“, sagte Mrs. Cornett, „oder mit den Elefanten im Zoo. Sie gelten als hochintelligent, und sie haben den Vorzug, dass sie nicht um unsere Schlafzimmer herum schleichen und unter Stühle kriechen und so weiter.“
Ein Erzengel, der verzückt den Anbruch des Millenniums verkündet und dann feststellen muss, dass es sich unverzeihlicher Weise mit der Regatta in Henley überschneiden würde und auf unbestimmte Zeit verschoben werden muss, hätte kaum enttäuschter sein können als Cornelius Appin angesichts der Reaktion auf seine wundervolle Errungenschaft. Die öffentliche Meinung war jedoch gegen ihn - in der Tat hätte sich bei einer Abstimmung wahrscheinlich eine beachtliche Mehrheit dafür ausgesprochen, ihn in die Strychnindiät einzubeziehen.
Unzulängliche Bahnverbindungen und das ungeduldige Verlangen, die Dinge zu einem Ende gebracht zu sehen, verhinderten einen alsbaldigen Aufbruch der Anwesenden; das Essen an jenem Abend war allerdings kein gesellschaftlicher Erfolg. Sir Wilfrid hatte ziemlichen Ärger mit der Stallkatze und anschließend mit dem Kutscher. Agnes Resker beschränkte ihr Mahl demonstrativ auf ein Eckchen trockenen Toast, an dem sie nagte, als bisse es womöglich zurück, während Mavis Pellington sich die gesamte Mahlzeit hindurch in rachsüchtiges Schweigen hüllte. Lady Blemley mühte sich, etwas in Gang zuhalten, das, so hoffte sie, als Konversation gelten mochte, aber ihre Aufmerksamkeit galt der Eingangstür. Ein Teller sorgfältig präparierter Fischreste stand auf der Anrichte bereit, aber Süßspeise und Dessert nahmen ihren Weg, ohne dass Tobermory im Speisesaal oder in der Küche erschienen. Das düstere Mahl war ausgelassen im Vergleich zu der Nachtwache im Rauchzimmer, die nun begann. Essen und Trinken hatten zumindest eine Ablenkung geboten und die herrschende Verlegenheit überspielt. Bridge kam wegen der allseits überreizten Nerven und Gemüter nicht in Betracht, und nachdem Odo Finsberry einer frostigen Zuhörerschaft eine traurige Darbietung von Melisande im Walde zum Besten gegeben hatte, wurde Musik stillschweigend gemieden. Um elf gingen die Bediensteten zu Bett, nachdem sie mitgeteilt hatten, dass sie das kleine Fenster in der Speisekammer wie immer für Tobermorys privaten Zwecke offen gelassen hätten. Die Gäste durchblätterten gewissenhaft einen Stapel neuerer Zeitschriften und nahmen sich dann nach und nach die Badminton Library und die gebundenen Ausgaben des Punch vor. Lady Blemley stattete der Speisekammer regelmäßige Besuche ab und kam stets mit einem Ausdruck ermatteter Niedergeschlagenheit zurück, die jede Frage überflüssig machte.
Um zwei Uhr brach Clovis das alles beherrschende Schweigen.
„Er wird heute Nacht nicht mehr kommen. Wahrscheinlich sitzt er jetzt gerade im Redaktionsbüro der Lokalzeitung und diktiert die erste Folge seiner Lebenserinnerungen. Lady Soundsos Fortsetzungsroman nehmen sie dafür heraus. Das wird der Knüller des Tages.“
Nach diesem Beitrag zur allgemeinen Fröhlichkeit ging Clovis zu Bett. In langen Abständen folgten auch die anderen Gäste seinem Beispiel.
Die Dienstemädchen, die den Morgentee auf die Zimmer brachten, gaben eine gleichlautende Antwort auf eine stets gleichlautende Frage. Tobermory war nicht nach Hause gekommen.
Das Frühstück war eine womöglich noch unangenehmere Angelegenheit als das Essen vom Vorabend, aber noch bevor es zu Ende war, klärte sich die Lage. Man brachte Tobermorys Leiche herein, die ein Gärtner soeben in Gebüsch gefunden hatte. Die Bisse in seiner Kehle und einige gelbe Fellbüschel zwischen seinen Krallen legten beredtes Zeugnis davon ab, dass er im ungleichen Kampf mit dem großen Kater aus dem Pfarrhaus gefallen war.
Gegen Mittag hatten die meisten Gäste The Towers verlassen, und nachdem Essen hatte sich Lady Blemley hinlänglich erholt, um der Pfarrei einen außergewöhnlich geharnischten Brief wegen des Verlustes ihres wertvollen Haustieres zu schreiben.
Tobermory war Appins einziger erfolgreicher Schüler gewesen und sollte es auch bleiben. Einige Wochen später riss sich ein Elefant im Dresdner Zoo, der nie zuvor irgendwelche Anzeichen von Bösartigkeit gezeigt hatte, los und tötete einen Engländer, der ihn offenbar geneckt hatte. Der Name des Opfers wurde in den Zeitungen verschiedentlich als Oppin oder Eppelin angeführt, aber sein Vorname wurde übereinstimmend mit Cornelius wiedergegeben.
„Wenn er versucht hat, dem armen Vieh unregelmäßige deutsche Verben beizubringen“, sagte Clovis, „dann hat er es nicht besser verdient.“

Saki: Tobermory; in: Die Clovis-Chroniken; Haffmans Verlag Zürich 1990; ISBN 3-251-20074-7; Originalausgabe: "The Chronicles of Clovis ", London 1911

Krabben


KRABBEN


Die Kur, die Yüko sich so dringend gewünscht hatte, zeigte eine bemerkenswerte Wirkung. Dabei war es noch nicht einmal zehn Tage her, seit sie von Tokyo aus an die Küste von Boshu am offenen Pazifik gekommen war. Sie verspürte keine Schwere und Kaftlosigkeit mehr. Deutlich nahm sie wahr, wie ihr Körper Tag für Tag mehr zu Kräften kam. Ihr war, als habe ihr Leben mit dem Frühling wieder neu begonnen.
Kajii, ihr Mann, hatte sie dorthin begleitet, und als das Meer, vom Zug aus auf der rechten Seite immer wieder von Häusergruppen und Felsen verdeckt, mit einemmal offen dalag, vergewisserte er sich erneut:
„Du weißt ja, was wir besprochen haben. Einen Monat, und nicht länger!“ Er hatte die Notwendigkeit dieser Kur von Anfang an nicht eingesehen.
Als Yuko zum erstenmal von einem Kuraufenthalt sprach, faßte Kajii dies als eine Art Scherz auf. Als er dann merkte, daß es ihr ernst war, schaute er sie verblüfft an. Was sollte diese altmodische Masche, wo ihre Lungentuberkulose doch mit Medikamenten behandelt wurde, die zigfach wirkungsvoller waren! Und dann brachte er noch einen handfesteren Grund für seinen Widerstand vor. Ob sie nun in einer Pension wohnte oder bei Privatleuten, beides wäre jedenfalls ziemlich kostspielig. Gewiß, wenn man wüßte, daß es nutzte, wäre er ja nicht dagegen, aber Geld für etwas auszugeben, das sowieso nichts brächte, sei seine Sache nicht! Wenn es nun gar nicht wirken sollte, ginge das ja noch. Was aber, wenn ihr Gesundheitszustand, der sich doch schon so gebessert hatte, sich wegen dieser abwegigen Idee wieder verschlechterte?
Und überhaupt, sie würde bei dieser Kur so ganz allein bestimmt schwermütig werden. Da mochte die Luft noch so gut sein - ein solcher Gemütszustand konnte dem Körper nicht guttun. Und dafür auch noch Geld ausgeben? Das sei doch wohl zu dumm. So wehrte er sich hartnäckig gegen das Unterfangen.
Aber obgleich Yuko Kajiis Meinung in allen Punkten berechtigt fand, konnte sie den Gedanken an einen Kuraufenthalt nicht aufgeben.
„Ich bin sicher, wenn ich fahre, werde ich ganz gesund. Das weiß ich. Verzeih, wenn ich so egoistisch bin, aber laß mich doch einmal kurz hin!“ sagte sie mit blinder Beharrlichkeit.
Mit geringfügigem blutigen Auswurf hatte sich im Spätherbst vor drei Jahren die Krankheit bemerkbar gemacht. Daß der Winter verging, bemerkte sie kaum, so sehr wurde sie von ihrer Verwirrung angesichts des ersten Krankenhausaufenthalts in ihrem Leben und dem Warten auf die wundersame Wirkung der Behandlung, von der immer wieder die Rede war, beherrscht.
Im vorletzten Winter dann war Yuko voll des Lobes für die großartige moderne Medizin und bedankte sich allenthalben.
Die Therapie verlief erwartungsgemäß. Die Spritzen hatten keine Nebenwirkungen, und auch ihre Besorgnis, es müßte dem Magen schaden, wenn sie täglich solche Mengen kratziger Paraaminosäure verschlang, erwies sich als grundlos.
Gleichzeitig war deutlich zu beobachten, wie der Krankheitsherd im Zentrum ihres rechten Lungenflügels, der aussah wie drei dicke, sich nach außen hin teilende Äste, mit jedem Röntgenbild, das man machte, schrumpfte.
„Bei Ihnen schlägt die Therapie ganz erstaunlich gut an. Ich bin sehr zuversichtlich!“ sagte der Arzt.
Als dann der Herbst kam, den man hatte abwarten wollen, war Yuko soweit wiederhergestellt, daß sie die Behandlung ambulant fortsetzen durfte. In der Nähe ihrer Wohnsiedlung gab es einen alteingesessenen Küfer. Die alte Mutter aus dem Laden - er hieß Takaraya - kam, während Yuko noch im Krankenhaus lag, zweimal wöchentlich zum Putzen und Wäschewaschen herüber, und an diesen Tagen, erzählte Kajii, kochte sie auch das Abendessen und bereitete das Bad vor. Sie kam nach Yukos Entlassung noch weiter und erledigte die schweren Arbeiten, doch allmählich konnte Yuko den Haushalt wieder selbst übernehmen.
Yuko erkältete sich häufiger als andere, und ab und zu bekam sie zwei, drei Tage Fieber, wenn sie ihre Periode hatte, doch machte sie sich nichts daraus. .
„Das ist nicht weiter schlimm. So etwas kommt vor. Wahrscheinlich ist das nur der Heilungsprozeß“, sagte sie zu Kajii.
Doch obwohl sich ihr Gesundheitszustand im Vergleich zum Vorjahr wesentlich gebessert hatte, bedeutete dieser Winter eine qualvolle Zeit für sie.
Das Röntgenbild von Yukos Lunge wies nun statt drei dicker Äste nur noch zwei auf, und die Schatten waren so zart wie Kiefernnadeln geworden. Im letzten Sommer hatte der Arzt gesagt:
„Das wird. wahrscheinlich bleiben. Das ist wie eine Brandnarbe. Die Krankheit selbst ist so gut wie geheilt. Wenn es erst kühler wird, werden Sie sich schlagartig besser fühlen.“ Yüko wartete zuversichtlich ab. Doch der Herbst verging, und als der Winter kam, fühlte sie sich immer noch nicht wiederhergestellt. Bisher war doch alles glatt verlaufen! Sie wurde zunehmend ungeduldig. Früher hatte sie, wenn es ihr einmal nicht gut ging, dies der Krankheit zugeschrieben und ohne weiteres hingenommen, doch nun irritierte es sie immer mehr.
„Mir geht es immer noch nicht richtig gut. Wieso denn bloß?“ beklagte sie sich häufig bei ihrem Arzt.
„Sie werden schon wieder zu Kräften kommen“, sagte der Arzt gelassen. „Selbst nach einer Erkältung braucht man zwei, drei Tage. Und Sie wollen nach Ihrem blutigen Auswurf einfach wieder zur Tagesordnung übergehen? - Sie halten doch weiter Ihren Mittagsschlaf? - Na gut, dann ist ja alles in Ordnung. Solange Sie den nicht vergessen...“ Doch wie hätte Yuko ihn vergessen können! Ihr Körper schien die Zeit zwischen ein und drei Uhr nachmittags regelrecht zu erwarten. Da der Arzt gemeint hatte, es verzögere die Genesung, wenn man sich zu sehr schonte, versuchte sie, sich nicht zu häufig hinzulegen, doch am wohlsten fühlte sie sich etwa zwei Stunden nach dem Aufstehen. Dieses Wohlbefinden schwand sehr plötzlich; allmählich wurde ihr Körper schwer, die Schultern verspannten sich, die Verspannung breitete sich über den Nacken bis in den Kopf aus, und bevor es Mittag wurde, war sie wieder erschöpft. Fühlte sie sich jedoch ausnahmsweise einmal wohl, dann begannen am späten Nachmittag ihre Wangen zu glühen, und wenn sie Fieber maß, stand die Quecksilbersäule - wie konnte es anders sein! - wieder über siebenunddreißig.
Wenn Kajii sich nun nach ihrem Befinden erkundigte und sie ihm mitteilen mußte, daß sich noch nichts verändert hatte, vermochte sie dies nicht mehr wie früher selbstsicher, zuversichtlich zu überspielen.
Sie fing an zu jammern: „Hätte ich mich nicht vielleicht doch gleich operieren lassen sollen?“ „Ach was!“ Kajii verzog sein Gesicht.
Daß Yuko sich nicht hatte operieren lassen, beruhte natürlich auf einer Entscheidung der Klinik, doch hatte es darüber zuvor unter den Ärzten heftige Auseinandersetzungen gegeben. Der Chirurg behauptete, der erkrankte Teil lasse sich nur durch Operation beseitigen, aber der Internist widersprach.
Die Patientin sei schon über dreißig, und von einer Operation könne man daher nicht viel erwarten, außerdem sei der Krankheitsherd nicht tief, aber großflächig, und da sei es besser, mit Medikamenten zu behandeln, als einen großen Teil der Lunge wegzunehmen. Zudem hieß es, wenn ein Organ teilweise nicht mehr funktionstüchtig sei, würde das den gesamten Organismus später zusätzlich belasten. Doch daß dann schließlich die Entscheidung für eine medikamentöse Behandlung gefallen war, geschah nicht gänzlich ohne Absicht der Betroffenen selbst. Sie sprachen es vor den Ärzten zwar nicht aus, aber beiden, besonders Kajii, widerstrebte es, daß sie auf ihrem Rücken eine große Narbe davontragen sollte.
Als ihm die Wirkung der Operation erläutert worden war, hatte er geantwortet:
„Natürlich, wenn es sein muß, gebe ich meine Einwilligung.“ Doch als er die Gegenargumente hörte, reagierte er so:
„Das glaube ich auch. Wenn in meiner Firma drei oder vier von meinen Mitarbeitern plötzlich gestrichen würden, dann wären alle anderen sofort überlastet und würden zusammenbrechen. Besser ist, man hat die Leute, auch wenn sie nicht sonderlich gut sind. Das dürfte beim menschlichen Körper nicht anders sein.“ Yuko nahm weiter ihre Medizin, doch als sie feststellte, daß ihr Gesundheitszustand sich nur bis zu einem gewissen Grad besserte, mußte sie ständig an die Operation denken, die sie abgelehnt hatte. Hätte sie sich sofort operieren lassen, wären sicher auch die kiefernnadelartigen Schatten auf ihrer Lunge schon verschwunden. Und ihr immer noch andauerndes körperliches Unwohlsein hätte sie gewiß schon längst überwunden. Dagegen sagte Kajii:
„Wenn du dich hättest operieren lassen, hätten sie dich womöglich noch einmal rangenommen und du würdest jetzt immer noch im Bett liegen. Du darfst nur nicht dauernd drüber nachdenken. Siebenunddreißig, das kommt doch auch bei den Gesündesten mal vor. Jeder hat doch seine Schwankungen. Die messen bloß nicht, deshalb merken sie's gar nicht.“ Als Yuko eines Tages nach dem Abendessen ihre Medizin einnehmen wollte und die Dose auf dem Tisch zu sich heranzog, sagte Kajii:
„Mach das doch bitte später.“ „Ja“, sagte Yuko und schraubte den Deckel wieder zu. Seit sie wieder zu Hause war, stand die Dose mit der Medizin, die sie im Krankenhaus auf ihrem Nachttischchen stehen hatte, ständig auf dem Eßtisch in der Küche. Das hieß, Kajii hatte schon mehr als ein Jahr lang täglich morgens und abends mitangesehen, wie sie aus dieser Dose ihre Medizin entnahm und herunterschluckte. Sie stand auf und stellte die Dose in den Küchenschrank; dabei ging ihr doch den Kopf, wie gedankenlos sie gewesen war, sich so mit ihrer Krankheit zu beschäftigen, und daß Menschen, die lange krank waren, deshalb oft so abstoßend wirkten. Kajii störte sich aber offenbar erst seit kurzem an ihrem Gebaren. Ihr schoß das Blut in die Wangen.
Yuko, die auf die herkömmliche Weise keine Lust erfahren konnte, hörte auch, nachdem sie krank geworden war, nicht auf Kajii, der warnte:
„Das tut dir nicht gut“, sondern verlangte heftigere Reize.
„Das ist mir egal.“ Indem er noch zu zögern schien, packten seine Hände bereits stark zu. Eine Zeitlang steigerte diese stete Sorge, es könne ihrer Gesundheit schaden, den Reiz dieser Rücksichtslosigkeit. Aber allmählich spürte sie, daß die ständig notwendige Vorsicht, während sie sich ihm andererseits, in den für Tuberkulosekranken typischen Gemütsschwankungen, oft heftig verweigerte, ihm langsam immer unerträglicher geworden war. Wenn ihre Spiele einmal wirklich Folgen zeitigten, schienen ihn ihre Gier und ihre Liederlichkeit, mit der sie sofort zu jammern anfing, besonders abzustoßen, und er vermochte offenbar nicht einmal mehr ihren Anblick zu ertragen.
Wenn das kalte, trübe Wetter anhielt, konnte sie kaum Spaziergänge machen. Gerade an solchen Tagen aber fühlte sie sich körperlich besonders unwohl; sie war in einem trostlosen Wohnblock gefangen und hielt es kaum noch aus.
Sehnsüchtig erwartete sie den Frühling. Wenn es erst wärmer würde, ginge es ihr bestimmt körperlich und seelisch besser.
Aber der Januar war noch nicht vergangen, da war sie mit ihrer Geduld amEnde.
„Willst du nicht zum Skifahren? Letztes und vorletztes Jahr konntest du meinetwegen doch nicht.“ So sagte sie zu Kajii, der immer schon ein begeisterter Skifahrer gewesen war, und schickte ihn zweimal auf die Reise. Als die alte Frau vom Takaraya davon erfuhr, sagte sie:
„Du meine Güte! Wie kann man eine kranke Frau allein zu Hause lassen!“ „Ich hab's ihm selbst vorgeschlagen«, sagte Yüko ein wenig verärgert. Die alte Frau war zwar fleißig und zuvorkommend, aber Yuko stieß sich an der Aufdringlichkeit, mit der sie sich oft einmischte. Als sie ihr von ihrem Kuraufenthalt erzählte, meinte sie zwar zunächst, das sei ja beneidenswert, doch dann verkündete sie:
„Aber Sie wissen ja, Männer darf man nicht sich selbst überlassen!“ und sagte das mit so selbstverständlicher Miene, daß es Yuko die Sprache verschlug.
Yuko, die den Frühling kaum noch erwarten konnte, träumte immer häufiger von der warmen Boshu-Küste. Kajiis Firma unterhielt dort ein Erholungsheim, und sie war einmal mit ihm dagewesen. Es war zu einer Jahreszeit, in der es in Tokyo langsam kühler wurde, doch nun, Jahre später, erinnerte sie sich noch lebhaft an die Wärme des Sandes unter ihren Füßen, als sie am Strand ausgestiegen war, an die weiche Luft und die Sonnenstrahlen, die noch Spätsommer gespeichert hatten. Damals hatte sie auch die Einheimischen sympathisch gefunden. Einmal hatten sie an der Haltestelle auf den Bus gewartet, als eine junge Frau vorbeikam, die einen Handkarren mit Gemüse zog. Bei ihr erkundigten sie sich, ob es wohl der richtige Bus wäre, worauf sie gemächlich antwortete:
„Wenn Sie hier warten, kommt er vorbei.“ Nachdem sie schon weitergegangen war, stellte sie den Karren ab, kam zurück und sagte etwas. Sie fragten nach, da wiederholte sie:
„Pro Person kostet der Bus zehn Yen.“ Der Frühling stand schon vor der Tür, und immer noch hatte Kajii seine Meinung nicht geändert, doch Yukos Verlangen wegzufahren war nun unabhängig von der Jahreszeit so stark wie eh und je. Mochte der Haushalt zusammenbrechen, mochte Kajii tun, was er wollte, sie war besessen von dem Gedanken, an die Küste zu kommen. Vielleicht hätte sie diese Idee am besten erst gar nicht gehabt, aber nun war sie sogar davon überzeugt, daß ihre Genesung deshalb keine Fortschritte machte, weil sie nicht fahren konnte.
Wieder und wieder redete sie auf Kajii ein: Wenn ich fahre, werde ich gesund.
„Es wäre gar nicht schlecht, wenn Sie es einmal zwei, drei Monate ausprobieren. Ich gebe Ihnen genügend Medikamente mit. - Wenn es nicht ganz klappt, ist das auch nicht tragisch. Wir kriegen Sie schon wieder hin“, sagte der Arzt.
So mußte Kajii wohl oder übel seine Zustimmung geben.
Allerdings setzte er zur Bedingung, es dürfe nicht länger als einen Monat dauern, und hartnäckig ließ er sich dies bestätigen.
„Länger bleiben bringt nichts. Und wehe, du kriegst Depressionen. Ich bin ja eigentlich immer noch dagegen.
Aber du hast es ja durchgesetzt mit deinem Egoismus. Also einen Monat und nicht länger!“ Das Meer an der Boshu-Küste, das man an diesem Tag kurz vor der Tagundnachtgleiche durchs Zugfenster sah, leuchtete in scheinbar warmem, frühlingshaftem Licht, doch die See war aufgewühlt. Man sah kaum Häuser an der Küste; niedrige Klippen ragten hervor, von weißen Schaumkronen umbrandet. Durchs geschlossene Zugfenster konnte man hören, wie die Wellen herandonnerten und wieder zurückrollten.
Dass Kajii wieder von der Absprache, nicht länger als einen Monat zu bleiben, angefangen hatte, lag vielleicht daran, daß er beim Anblick dieser rauhen Szenerie erneut unsicher war, ob er sie dort allein zurücklassen könne. Doch Yuko nickte nur:
„Ist schon in Ordnung.“ Damit wollte sie sagen, sie werde, egal wie sehr es ihr hier auch gefiele, nicht mehr von einem längeren Aufenthalt sprechen. Sie blickte auf den fernen Horizont, die bewegte, im Sonnenlicht glitzernde Meeresfläche vor ihr, die kleinen grünen Inseln und das Wechselspiel der Farben auf dem von Wellen überspülten und vom zurückfließenden Wasser festgewordenen Sand; endlich hatte sie die Küste von Boshu gesehen, und schon bei diesem Anblick fühlte sie sich von Kraft durchströmt.

Das Zimmer, das sie auf Kajiis Bitten durch den Hausmeister des Firmenerholungsheims vermittelt bekommen hatte, lag im ersten Stock eines der wenigen Andenkenläden am Ort. Auf beiden Seiten eines Mittelgangs lagen drei Räume mit abgenutzten, rotbraun nachgedunkelten Tatamimatten, die im Sommer wohl von Badegästen bewohnt wurden; für sie hatte man ein kleines Zimmer nach hinten hinaus mit Blick aufs Meer ausgewählt. In einem großen Gasthaus gäbe es immer nur ein festes Menü, und ein kleines Haus sei in diesem Punkt zwar flexibler, doch könne es laut werden, wenn abends die Einheimischen dort einkehrten, daher hatte man sich für dieses Zimmer entschieden. Yuko hatte vorgehabt, sich selbst zu verpflegen, sollte sie einen Raum in einem Nebengebäude bekommen, doch ihre Wirtsleute - der Mann war Geschäftsführer in einem Gasthaus, die Frau und die junge Tochter führten den Laden - boten ihr auch die Mahlzeiten an.
Bei ihrer Ankunft fühlte sich Yuko, als habe sich die lähmende Schwere, die Steifheit in den Schultern, ihre Niedergeschlagenheit und die Beklommenheit ihres Herzens, die sich so lange schon in ihr festgesetzt hatten, mit einem Schlage gelöst. Zugleich spürte sie deutlich, wie ihr Körper täglich kräftiger wurde. Diese frische Stärke, die nun in ihr pulsierte, hatte sie lange Zeit vermißt. Es war das gleiche Gefühl wie damals, als sie noch gesund war. Immer und immer wieder vergewisserte sie sich voller Freude ihrer Heimkehr in die Welt der Gesunden.
Bis auf den Mittagsschlaf, den sie nie versäumte, verbrachte Yuko den größten Teil der Zeit vom Morgen bis zum Sonnenuntergang draußen. Sie sah sich die großen Fischreusen an, die man am Meer angelegt hatte, besuchte die etwas entfernter liegenden Blumenfelder, kaufte Margueriten und Levkojen, drei Stück für zehn Yen, doch die längste Zeit verbrachte sie am Strand. Oft saß sie auf der menschenleeren Terrasse eines Strandhauses, auf der einzigen noch benutzbaren Schaukel an dem Gerüst, dessen eiserne Stützpfeiler der Taifun vom vorletzten Jahr verbogen hatte, oder auf einer Klippe an der Felsenküste. Jede Welle, die ans Ufer schlug, brach sich anders als die vorangegangene. In den Felsvertiefungen standen Pfützen, in denen schwarze Schneckenrnuscheln umherschwammen. Die Wellen spülten schwallweise losgerissene Tangbüschel zwischen den niedrigen Klippen hindurch und nahmen sie beim Ablaufen wieder mit. Stundenlang konnte sie zusehen, ohne daß sie genug davon bekommen hätte. Wenn die Sonne weiterwanderte und ihr nachmittags im Rücken stand, leuchtete das Meer tiefblau.
Sie schaute noch eine Weile, und erst, wenn sie merkte, daß der Wind auffrischte, entschloss sie sich endlich, nach Hause zu gehen.
Gegen Abend saß Yuko, der ein regelmäßiges Bad untersagt worden war, oft am Fenster und sah, wie Kinder in der Ferne am Strand Baseball spielten. Es wurde so dunkel, daß sie sich wunderte, ob sie den Ball überhaupt noch sehen konnten. Doch sie hörten einfach nicht auf. Aber wenn sie sich einmal kurz vom Fenster löste und wieder zurückkehrte, waren sie plötzlich verschwunden. Es gelang ihr nie, den Moment abzupassen, wo die Kinder vom Spielen heimkehrten. Das kam ihr fast unheimlich vor.
Allein zu Abend zu essen, machte ihr nichts aus.
„Möchten Sie rohen Seeigel? Wir haben gerade welchen gebracht bekommen.“ Manchmal kam ihre Gastgeberin herauf, brachte aufgeschlagene Seeigel in der Schale und blieb lange, um mit ihr zu plaudern. Auch das störte Yuko nicht weiter.
Ihre Stickarbeit, die Bücher und das Radio, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, rührte sie kaum an. Nach acht Uhr abends wurde sie schon müde. Ihre anfängliche Besorgnis, das Meeresrauschen könne sie stören, war unbegründet. Und jeden Morgen um halb sechs wachte sie auf, so frisch wie damals als junges Mädchen.
Wie gut, daß sie gekommen war! Sie fühlte sich wie im Paradies. Sie hatte gemeint, sie werde in der neuen Umgebung die Zeit mit Kajii, als sie sich gegenseitig das Leben unerträglich machten, noch einmal mit anderen Augen betrachten können. Aber offenbar waren ihre oft so überreizten Nerven hier abgestumpft, jedenfalls war ihr gar nicht mehr danach, das alles wiederaufzurollen. Ab und zu kam ihr eine Erinnerung hoch, doch sie blieb blaß und verschwommen, und noch bevor sie sie fixieren konnte, verschwand sie schon wieder.
Selbst ihr Liebesleben kam ihr nun vor wie eine Erfahrung aus fernen frühen Zeiten.
Wie wäre es, kam ihr plötzlich in den Sinn, an einem Ort wie diesem allein zu leben und einen kleinen Andenkenladen aufzumachen? Neben Postkarten, Holzpuppen und Süßigkeiten verkauften sie hier nur noch leere Muscheln in Netzen, eßbaren Seetang, nicht etwa in Cellophantüten mit Etikett, sondern einfach in Papier gewickelt, auf dem „50 Yen“ oder „100 Yen“ stand, Kreiselschnecken und getrocknete Muscheln. Eines Tages, als sie gerade von einem Spaziergang heimgekehrt war, rief ein Kunde vor dem Laden ihr zu: „Hallo, junge Frau, ich möchte das hier.“ „Dankeschön“, sagte sie und reichte ihm für seine Hundert- Yen-Münze ein Päckchen Seetang. Die Frühlingsferien waren schon angebrochen, und bald müßte die Saison beginnen, doch selbst am Sonntag waren die Gäste noch spärlich. Die Frauen versuchten erst gar nicht, die Kunden mit lautem Rufen vor dem Laden anzulocken. Wenn sie ein Körbchen voll Kreiselschnecken aufgeschichtet hatten, nahmen sie aus einem großen Kasten daneben eine weitere, taten sie dazu und sagten: „Die gibt's noch gratis“, was ihr einziges Werbemittel zu sein schien. Ein solches Geschäft würde sie wohl auch noch betreiben können! - Wenn sie an diesem schönen, stillen Strand leben und den heiteren Frieden, die Gesundheit und die Freiheit nach Herzenslust ausschöpfen könnte, so bräuchte sie, fand Yuko, nie mehr jemanden, der ihr Zuspruch bot.
An einem solchen Tag kam aus Tokyo Kajiis Bruder, ein Lehrer, mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn zu Besuch.

Kurz vor Mittag, als sie auf dem Heimweg vom Spaziergang schon wieder in der Nähe des Hauses war, rief es vom Strand unterhalb der Böschung am Wegrand herauf:
„Tante!“ und ein Kind winkte. Sie sah hin und erkannte Takeshi.
„Ach du! Mit wem bist du gekommen?“ Sie ging zum Straßenrand und rief hinunter. Aber Takeshi antwortete nicht; er war vollauf damit beschäftigt, die Böschung hochzuklettern. Er strampelte sich energisch ab, um möglichst schnell bei ihr zu sein, wobei er das Gras, das so hoch war wie er selbst, zerteilte und die kleinen Knie abwechselnd fast bis an die Brust zog. Endlich hatte er es geschafft und sprang auf die Straße.
„Wo warst du denn? Wir haben auf dich gewartet“, sagte er vorwurfsvoll und zog an ihrer Hand.
„Das tut mir leid. - Wer ist denn noch da?“
„Alle beide“, sagte Takeshi im Weitergehen, ohne sie loszulassen.
„Ihr seid doch mit dem Schnellzug gekommen, oder?“ „Mit dem ‚Boso Nummer eins‘“, antwortete Takeshi, und dann sagte er plötzlich:
„Ich bin in der ersten Klasse“, und während er weiter geradeaus schaute, führte er seine freie Hand an den Schirm seiner nagelneuen Schulmütze und rückte sie ein wenig nach links und rechts.
„Herzlichen Glückwunsch“, sagte Yuko; es hatte ihr bereits auf der Zunge gelegen, bevor seine Geste sie dazu zwang.
„Freust du dich auf die Schule?“ fragte sie. Dabei verlangsamte sie ihren Schritt und beugte sich seitlich zu der niedlichen Gestalt in der Uniform hinunter. Der Uniformkragen, der unter dem kleinen Kinn mit zwei Häkchen geschlossen wurde und unter dem, wie bei den Großen, der weiße abwaschbare Kragen hervorschaute, die eng gesetzten goldenen Metallknöpfe auf der Brust und drei gleiche, nur kleiner, am geraden Ärmelaufschlag, der das runde Handgelenk richtig männlich wirken ließ - es war wie eine perfekte Miniaturausgabe, an der kein i-Tüpfelchen fehlte. Das war so wunderlich, daß sie ihn entzückt anschaute.
„Erstaunt?“ sagte Takeshi und zog sie ungeduldig vorwärts.
Schwager und Schwägerin saßen in Yukos Zimmer vor leeren Teetassen.
„Du hast ja zugenommen!“ „Gut siehst du aus!“ meinten sie beide, als Yuko mit Takeshi hereinkam.
„Ich laß mich verwöhnen“, antwortete Yuko, dann sah sie auf Takeshi, der neben seiner Mutter Fumiko stand, und sagte erneut:
„Schön, daß du gekommen bist. - Die Uniform steht dir wirklich gut.“
Koji schaute bei diesen Worten zufrieden auf seinen Sohn, während Fumiko ihre Tasche heranzog:
„So, Takeshi. Jetzt mußt du dich umziehen. Die Tante hat dich ja schon gesehen. - Schau, wie du dich schon schmutzig gemacht hast!“ rief sie aus und hieß ihn seinen Ellbogen hochhalten, mit dem er offenbar beim Hochklettern an der Böschung die Erde gestreift hatte, zog ihn ans Fenster und klopfte den Ärmel ab, indes der Betroffene selbst fragte:
„Wann essen wir denn?“ Fumiko wandte sich zu Yuko:
„Für dich haben wir auch eine Portion mitgebracht.“ Yuko schlug vor, zum Essen an den Strand zu gehen. Im Fortgehen bat sie unten im Geschäft um Kreiselschnecken und bekam auch in einer leeren Dose etwas Sojasoße dafür; den übermütigen Takeshi ließ sie trockene Äste von der Böschung und angeschwemmtes Holz sammeln und begann, hinter einem Felsen ein Feuer zu machen.
„Das war eine gute Idee von dir“, sagte Koji und holte eine kleine Whiskyflasche hervor.
„Das wollte ich schon immer einmal machen“, meinte Yuko, während sie die Augen vor dem Rauch zusammenkniff. „Aber allein geht das ja schlecht...“ „Meinst du? Ich würde es machen, jeden Tag.“ Als das Feuer brannte, legten sie die Kreiselschnecken außen herum.
„Tante, brauchst du noch Holz?“ fragte Takeshi und schleppte vier, fünf Holzstücke an, die er kaum auf seinen Ärmchen tragen konnte.
„Nein, wir brauchen keins mehr. Vielen Dank. - So, Takeshi, setz dich zu uns.“ Yuko breitete gleich neben sich eine Zeitung aus und hielt sie fest, damit der Wind sie nicht fortblies, bis sein kleiner Hintern sich darauf niedergelassen hatte.
„Guck mal, diese Muschel!“ Takeshi zeigte auf eine besonders große Schneckenmuschel im Korb, die mit ihrem kräftigen Fleisch den Deckel hochstieß. Er streckte seinen Zeigefinger nach diesem wild anmutenden Fleisch aus, da zog sich die Muschel plötzlich in ihr Gehäuse zurück. Erschrocken hüpfte Takeshi hoch. Alle lachten.
Yuko verzichtete zum erstenmal auf ihren Mittagsschlaf.
Angefangen mit dem Picknick am Strand, bestritt sie das Programm. Doch empfand sie es überhaupt nicht als anstrengend. Sie war in gehobener Stimmung, und dennoch gab es kein Anzeichen dafür, daß Fieber folgen könne.
Gemeinsam mit den anderen setzte sie mit dem Boot auf eine kleine Insel über, die sie, obgleich so nah, noch nicht besucht hatte, und wanderte dort von Klippe zu Klippe, kehrte mit dem Schiff wieder zurück und sammelte am Strand, an einer anderen Stelle als vorhin, Muscheln. Sie fotografierte und wurde fotografiert und genoß dabei die Zeit und wurde kein bißchen müde. Schwager und Schwägerin, die gewiß nichts von ihrem regelmäßigen Mittagsschlaf wußten, sorgten sich:
„Ist das in Ordnung, daß du das alles mitmachst?“ „Laß uns lieber zurückgehen. Es könnte zuviel für dich werden“, sagten sie dann und wann, doch war ihr dies fast ein wenig lästig.
Sie hörte darüber hinweg, rief den beiden, die diese Gegend zum erstenmal besuchten, fast triumphierend zu:
„Ist es nicht wunderbar hier? Euch gefällt's doch auch?“ und lief weiter.
Die Sonne stand ein wenig tiefer.
„Wenn du so weitermachst, bist du erschöpft. Takeshi kann allein spielen. Laß uns doch eine Pause machen.“ Koji hatte darauf bestanden, und so saßen die Erwachsenep auf einem Bootswrack am Strand. Yuko schaute aufs Meer, das im schrägeren Sonnenlicht leuchtete:
„Schaut her, es ist tiefblau. Um diese Zeit ist es immer so.“ Die drei saßen noch eine Weile da. Koji hatte die Arme um die angezogenen Knie gelegt. Schließlich drehte er die gefalteten Hände leicht nach außen und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Fumiko lugte ebenfalls von der Seite herüber und sagte nickend:
„Ja, langsam ist's Zeit.“ „Wenn wir jetzt losgehen und packen, kommen wir gerade rechtzeitig.“ „Nehmt ihr den Schnellzug?“ erkundigte sich Yuko und sah dabei zu Takeshi hinüber, der in einiger Entfernung spielte.
„Ja, das hatten wir vor.“ „Bleibt doch über Nacht“, versuchte es Yuko.
„Um Gottes Willen! Was würde denn dein Mann sagen, wenn wir dir so zur Last fallen?“ „Der wird nicht böse sein. Bleibt doch! Du hast doch auch gerade Ferien, Koji.“ „Ach, wir kommen dich bald mal wieder besuchen.“ Mit diesem Vorschlag lehnte Fumiko die Einladung ab.
„Soll ich ihn rufen?“ wandte sie sich an Köji, der es daraufhin selbst übernahm: „Takeshi, komm her.“ Takeshi packte seine gesammelten Schätze, die er neben sich auf einem Taschentuch im Sand aufgehäuft hatte. Er stand auf, hob seinen kurzen Arm über den Kopf, und ohne in ihre Richtung zu sehen, winkte er ein paarmal abwehrend, als wolle er sagen: „Ich will nicht.“ Klein wie er war, spürte er dennoch sehr wohl, daß er diesmal nicht zu einer neuen aufregenden Entdeckung gerufen wurde.
„Das arme Kerlchen. Er hat doch solchen Spaß...“ Ausgehend von seiner so ehrlichen Geste, die er soeben gezeigt hatte, ließ Yuko all die kleinen Begebenheiten des Tages mit ihm an sich vorüberziehen: Aus der Kragenöffnung seines ziegelroten Wollhemds blitzte das weiße Unterhemdchen hervor. Die kleine Gestalt war ständig in Bewegung.
Stieß er auf eine Anhäufung von Muscheln, so hüpfte er geschäftig von einer zur anderen und hob sie auf. - Als sie ihn rief, um ihm einen seltenen, ganz ausgetrockneten Kastenkugelfisch zu zeigen, den sie zufällig gefunden hatte sie selbst hatte den Fisch erst hier kennengelernt -, kam er angerannt, starrte die groteske Erscheinung an, sagte: „Den laß ich“, und ließ beide Hände hinter dem Rücken verschwinden. - Den Fischer, der mit aller Kraft das Boot in Fahrt zu bringen suchte, fragte er: „Onkel, sind wir so schwer?“ - Dieses Kind lief nun noch weiter weg und kauerte sich hin.
„Er kommt nicht. Du mußt ihn holen“, sagte Koji zu Fumiko, die aufstehen wollte.
Yuko hielt sie zurück:
„Laß ihn doch hier.“ „Aber wir verpassen den Zug.“ „Nein nein. Ich meine, könnt ihr ihn nicht bei mir lassen?“ verbesserte sich Yuko. „Nur zwei, drei Tage. Das wird ihm guttun. Und übermorgen, am Samstag, kommt Kajii, der kann ihn ja am Sonntag wieder mitnehmen.“ „Das ist bestimmt noch zuviel für den Jungen“, meinte Koji, und Fumiko fügte hinzu:
„Du würdest große Mühe haben, Yuko.“ Aber Yuko kümmerte sich nicht weiter darum, sondern wandte sich direkt an das Kind:
„Takeshi, komm mal her!“ Und als er darauf noch weiter weglief: „Warte doch. Ich sag dir was Schönes.“ Takeshi schaute sich um und setzte sich schließlich wieder in ihrer Richtung in Bewegung. Ich muß ihn unbedingt herumkriegen, damit er bleibt, dachte Yuko, während sie zusah, wie er angerannt kam. Kajii, der übermorgen kommen wollte, würde sie zeigen, wie gut es ihr jetzt ging, aber ihre Vorfreude auf das Wiedersehen nach zwei Wochen war nicht ungetrübt. Sie fühlte einen unerklärlichen Druck, eine Art Verkrampfung. Wäre Takeshi da, den auch Kajii mochte, so gelänge es vielleicht, den Tag so fröhlich wie heute zu überspielen und glatt hinter sich zu bringen. Bei diesem Gedanken wurde der Wunsch, Takeshi dazubehalten, nur noch stärker.
Takeshi stand neben ihr.
„Was ist denn'?“ fragte er und warf als erstes seine Schätze aus dem Taschentuch in den Sand.
„Warum streust du denn alles auf den Boden? Jetzt mußt du alles wieder einsammeln“, schalt Fumiko. Aber Takeshi bückte sich, wühlte in dem kleinen Häufchen Muscheln herum und sagte:
„Wo ist denn die Krabbe? Die Krabbe ist weg.“ „Die Krabbe?“ Yuko schob die Muscheln mit den Fingerspitzen auseinander.
„Ist sie nicht weggelaufen ?“ „Nein, es war nur eine tote“, antwortete Takeshi und wühlte weiter in den Muscheln herum, wobei zwei, drei abgebrochene, weißgebleichte Krabbenbeine zum Vorschein kamen.
„Meinst du das hier? Das ist ja kaputt!“ Yuko nahm ein Bein und hielt es hoch.
„Was machen wir denn jetzt?“ „Da kann man nichts machen. Du hättest sie nicht mit den Muscheln zusammentun sollen“, sagte Fumiko. Koji lachte. „Du, Takeshi, bleibst du heute nacht nicht hier?“ sagte Yuko. „Das kannst du doch. Du bist doch schon in der ersten Klasse. Ich finde dir eine Krabbe. Eine lebendige, mit ganz roten Scheren. ... Übermorgen kommt dein Onkel, dann kannst du mit ihm wieder nach Hause, mit der Krabbe.“ Takeshi schaute von den Krabbenüberresten zu Yuko hoch.
„Wo sind denn die Krabben?“ „Ach, überall.“ „Warum hast du sie denn heute nicht gezeigt?“ „Ich hab's vergessen. Wir können doch morgen gehen.“
„Und Papa und Mama?“ fragte Takeshi und sah die beiden an.
„Wir fahren nach Hause.“ „Bringt ihr mich wieder zum Krabbenfangen her?“ „Aber bis dahin gibt's vielleicht keine mehr“, warf Yüko em.
„Was soll ich machen?“ „Das mußt du selber entscheiden“, befand Koji.
Dann sagte Takeshi plötzlich:
„Ja gut, ihr könnt fahren“, und winkte seinen Eltern.
Aber Yuko war sich bis zum letzten Moment nicht sicher, ob Takeshi den Mut aufbringen würde, tatsächlich zu bleiben. Vor dem Geschäft, wo sie ihr Zimmer hatte, legte sie ihre Hand auf Takeshis Schulter und zwinkerte über seinen Kopf hinweg Schwägerin und Schwager zu:
„Also dann.“ „Ja, alles Gute.“ „Dank dir für deine Mühe“, sagten sie mit gedämpfter Stimme, verbeugten sich leicht zum Abschied und schauten im Gehen noch einmal auf ihren Sohn. Aber ob aus Desinteresse oder unterdrückter Spannung, er schaute nach unten, zog an dem Gummiband auf den vor ihm aufgereihten Seetangpäckchen und ließ es klatschend wieder zurückschnellen.
Yuko dirigierte ihn in die entgegengesetzte Richtung, und erst als sie im Haus waren, atmete sie auf.
Zwar fühlte sie sich nicht müde, aber sie war doch weit mehr als sonst gelaufen und hätte nur allzu gern ein Bad genommen, doch unterdrückte sie dieses Bedürfnis. Ihre Wirtin bat sie, das Kind baden zu dürfen. Neben dem großen Holzzuber hockend, versorgte sie ihn, und als sie den frisch gewaschenen Takeshi nach oben in ihr Zimmer brachte, war es draußen bereits ganz dunkel. Sie zog ihm die Unterwäsche an, die Fumiko vorsorglich für ihn eingesteckt hatte, falls er sich beim Spielen am Strand naß machen sollte, und dann seine anderen Sachen, sodann schob sie ein wenig früher als sonst die hölzernen Läden zu, um ihm den Anblick des dunklen Meeres bei Nacht zu ersparen.
„Darf ich Sie um Bettzeug für den Jungen bitten?“ sagte Yuko, als die Tochter des Hauses kam, um das Geschirr vom Abendessen abzuräumen. Zwar bestand schon längst keine Ansteckungsgefahr mehr, aber sie wollte die Eltern nachträglich nicht beunruhigen, indem sie mit ihm unter einer Decke schlief.
Sie legte ihn in seinem Hemd schlafen und bereitete sich selbst ebenfalls für die Nachtruhe vor, da hörte sie es vom Kopfende her fragen:
„Tante, wo sind meine Muscheln?“ Sie drehte sich um und antwortete:
„Keine Sorge. Die liegen alle draußen auf der Fensterbank.“ Ohne das Licht auszuknipsen, schlüpfte sie unter ihre Decke und schaute zu Takeshi hinüber, der neben ihr lag. Er blickte an die Decke. Sein Gesicht, das unter der normalgroßen Erwachsenendecke herausschaute, wirkte ganz klein und sehr allein. Was er wohl denken mochte? Ob er Heimweh bekommen hatte? - Aber Takeshi sagte:
„Wann gehen wir denn Krabben fangen?“ „Morgen.“ „Das weiß ich. Gehen wir gleich nach dem Frühstück?“ „Ja gut.“ Als ob er meinte, das sei nun erledigt, sagte er als nächstes:
„Erzähl mir was“ , und drehte sich zu ihr hin.
„Du mußt dein Kopfkissen nachziehen.“ „Ja.“

Er zog sein Kissen, ein Sitzkissen, das mit einem Handtuch umwickelt worden war, zu sich heran, legte seinen Kopf darauf und sagte erneut „Erzähl mir eine Geschichte.“ „Eine Geschichte? ... Geschichte, hmm.“
Yuko stotterte ein wenig. Sie hatte noch nie einem Kind eine Geschichte erzählt, und bei den wenigen Geschichten, an die sie sich erinnerte, wußte sie entweder den Anfang nicht oder, wie man sie am besten erzählte.
„Kannst du mir nicht etwas erzählen?“ redete sie sich mühsam heraus. „Zum Beispiel eine Geschichte aus dem Fernsehen. Was magst du denn? General Ponpon?“ „Nöö.“ „Was denn dann?“ „Ich mag kein Fernsehen.“ Dann warf sich Takeshi wieder herum. Er legte sich seitlich auf den Bauch, setzte eine Hand neben das Kopfkissen und sagte:
„Kratz mir den Rücken.“ Yuko schlüpfte aus ihrem Bett und schob ihre Hand unter dem Kragen hindurch auf den warmen Rücken des Kindes.
Während sie ihn mit gekrümmten Fingern rieb, fragte sie:
„Wo juckt es denn? Hier?“ Takeshi, das Gesicht weiter auf dem Kissen, nickte leicht.
„Seit wann hast du denn das? Hat dich etwas gestochen?“ „Ich laß mich jeden Abend kratzen, wenn ich im Bett bin“, sagte Takeshi. „Noch weiter oben...“ Wenn Yuko seinem Wunsch entsprach, schloß Takeshi die Augen und genoß es sichtlich. Aber wenn sie weitermachte, nörgelte er:
„Nicht immer an derselben Stelle!“ Die Zahl der Stellen, wo er gekrault werden wollte, war schier unerschöpflich, und so erwies sich der kleine Rücken als erstaunlich groß. Yuko fuhr mit ihren gekrümmten Fingern nach rechts und nach links, tief nach unten und wieder nach oben; unter dem Hemd, das ihr durch das Gewicht der Decke noch enger vorkam, kraulte sie sanft die junge, elastische Haut. Langsam wurde ihre Hand müde.
„Noch einmal da!“ Yuko wechselte die Stelle erneut.
„Tiefer - noch tiefer.“ „Hier?“ „Neein.“ Takeshi zog mit geschlossenen Augen die Brauen ungeduldig zusammen. „Nicht daa. Weiter da unten, beim Bauch...“ Yuko mußte lächeln und nahm umgehend seine Hüfte in Behandlung.
Doch allmählich wurden Takeshis Befehle immer leiser und seltener, und schließlich verstummte er. Sein Atem wurde ruhiger. Er war wirklich noch ein kleines Kind. Sie schaute in Takeshis Gesicht, der, fest schlafend, seine Lippen leicht geschürzt hatte, und bettete ihn wieder in die Mitte seines Futons.
Nachdem sie in ihr eigenes Bett zurückgekehrt war und den Kopf auf das Kissen gelegt hatte, merkte sie, daß sie das Licht an der Decke noch nicht gelöscht hatte. Sie war im Begriff, ihre Decke zurückzuschlagen und aufzustehen. Da fing sich ihr Blick an Takeshis Schuluniform, die an der Wand hing. Der kleine Anzug, der, vorne offen, über dem Bügel hing, mit den im gelben Licht blinkenden Goldknöpfen und den steif gespreizten kurzen Ärmeln brüstete sich stolz dort 0 ben in der Höhe. Sie starrte ihn eine ganze Weile vom Bett aus an.

In einem flachen Holzbecken wurden Langusten gezüchtet.
Die Tiere hatten sich alle mit gestrecktem Körper auf dem Boden niedergelassen, als ob sie dort festklebten, aber ab und zu schnellten sie hoch und brachten Bewegung in das Wasser.
Es waren jedoch nicht die Langusten, die Yuko Takeshi vor. dem Becken hockend zeigte. Es war eine kleine Meeresschildkröte, die zu der Gesellschaft im Becken hinzugekommen war.
Als sie an diesem Geschäft vorbeigekommen waren, hatten drei Männer vor dem Becken gestanden, hineingeschaut und gesagt: „Das ist aber selten!“ „Die kriegt man kaum mal zu fassen.“ Als Yuko mit Takeshi neugierig näherkam, erzählte einer von ihnen:
„Das ist eine Meeresschildkröte. Gestern nacht erst geboren.“ Zwar hatte sie schon die Farbe. und Form einer erwachsenen, aber ihr Panzer maß nur etwa drei Zentimeter im Durchmesser, und sie schwamm auf der Wasseroberfläche langsam hin und her. Die vier Füße hatten keine Zehen, stattdessen Häute. Yuko fragte:
„Wird die so groß, daß ein Mensch darauf sitzen kann?“ „Ja.“ Yuko wandte sich an Takeshi, der sich mit beiden Händen an den Beckenrand klammerte und hineinschaute.
„Das ist so eine Schildkröte wie vom Fischer Urashima aus dem Märchen. Wenn die groß wird, kann man sogar darauf sitzen. Schau mal, die Schwimmhäute an den Füßen.“ Takeshi nickte schweigend. Die Schildkröte paddelte noch ganz unkoordiniert mit ihren vier Beinen. Und vielleicht weil sie noch nicht richtig schwimmen konnte, kippte der Panzer jedesmal auf die Seite.
„Könnten wir die nicht kriegen? Ich würde sie gerne kaufen“, fragte Yuko.
„Die stirbt sofort. Die können nur Leute von hier großziehen.“ „Es ist ja nur für kurze Zeit, nur für den Jungen zum Spielen. « »Sie gehört uns eigentlich nicht, wir haben sie nur in Pflege. « Yüko hätte nie gedacht, daß eine einzelne Schildkröte, auch wenn sie selten sein mochte, an einem Ort wie diesem als derart kostbar galt.
„Ach so, das wußte ich nicht“, entschuldigte sie sich. Und sie bedauerte, leichtsinnig darüber verhandelt zu haben, so daß Takeshi ihr nun womöglich nachtrauerte.
„Vielen Dank“, sagte sie zu den Männern, und besorgt, ob er ihr folgen würde, forderte sie Takeshi auf: „Gehen wir.“ Glücklicherweise kam er brav mit.
Als sie jedoch ein Stück gegangen waren, sagte Takeshi:
„Wo suchen wir denn jetzt die Krabben?“ Den ganzen Vormittag lang hatte sie noch keine Krabbe für Takeshi finden können. Als sie vorhin die wacklig schwimmende kleine Schildkröte sah, dachte sie sofort, die müsse sie haben - und würde sie auch bekommen -, denn sollten sie keine Krabben finden, so hätte sie doch einen guten Ersatz, und sie war erleichtert. Ob Takeshi langsam merkte, wie unerwartet schwierig es war, Krabben zu finden? Wenn sie ihm die Schildkröte schenkte, würde er die Krabbe vielleicht vergessen. Das hatte sie zunächst angenommen, aber nach seiner erneuten Frage zu urteilen, hätte er sicher die Krabben auch dann nicht aufgegeben, wenn er die kleine Schildkröte bekommen hätte. Eine lebendige Krabbe, die mit hocherhobenen roten Scheren seitwärts trippelt - das war es, was Takeshi unbedingt finden wollte, und er glaubte anscheinend fest, daß sie ihm eine solche finden würde.
„Takeshi, es ist Zeit zum Mittagessen. Laß uns nach Hause gehen. Dann essen wir und machen einen Mittagsschlaf...“ „Mittagsschlaf? Das will ich nicht.“ „Doch, doch. Dann wirst du groß und stark. Krabben machen auch einen Mittagsschlaf. Die kannst du dann sowieso nicht finden.“ Yuko hatte sich dies von Anfang an vorgenommen. Als sie am Morgen aufgewacht war, fand sie zwar, das viele Laufen am Vortag habe ihr nicht geschadet, sondern ihr Körper habe sich sogar daran gewöhnt, doch sie zögerte dennoch, ihre langgehegte Gewohnheit an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zu durchbrechen. Besonders, wo jetzt Takeshi da war und morgen Kajii kommen würde, wäre es schlecht, wenn sie körperlich nicht auf der Höhe wäre.
Nach dem Essen gelang es ihr schließlich, Takeshi zum Mittagsschlaf zu überreden.
Er zog sich die Wolldecke über den Kopf, stieß sie mit den Füßen wieder herunter und fragte:
„Um wieviel Uhr darf ich aufstehen?“ „Um drei Uhr. Ich sag dir Bescheid. Also schlaf jetzt ruhig.“ Takeshi kniff seine Augen zu. Aber sogleich öffnete er sie vorsichtig wieder:
„Tante, schlafen die Krabben auch wie wir mit dem Bauch nach oben?“ „Was glaubst du denn?“ „Ich weiß nicht.“ „Dann weiß ich's auch nicht. - So, jetzt sei still und schlaf“, sagte Yuko und schloß die Augen.
„Ich glaube, sie schlafen doch mit dem Bauch nach oben, Tante.“ Yuko tat, als hätte sie nichts gehört. Anscheinend brauchte Takeshi beim Mittagsschlaf nicht gekrault zu werden. Da es still wurde, schaute sie nach und stellte fest, daß er schon schlief. Yuko schloß wieder die Augen.
Mittagsschlaf bedeutete bei ihr normalerweise nur, daß sie sich hinlegte und die Augen schloß; selten schlief sie wirklich ein. Zu Anfang, als sie sich diese Gewohnheit gerade erst zu eigen gemacht hatte, gingen ihr ständig Gedanken im Kopf herum, aber mit der Zeit gewöhnte sie sich daran, selbst wenn sie durch die geschlossenen Lider die Helligkeit spürte, in einen halbwegs schlafähnlichen Zustand zu fallen.
Aber heute war es anders. Nach dem Mittagsschlaf würde sie gleich wieder Krabben suchen müssen, und diesmal müßte sie unbedingt welche finden. Voll innerer Unruhe wartete und fürchtete sie zugleich, daß es drei Uhr würde.
„Gibt es hier keine Krabben?“ Immer wiederhatte sie seit dem Morgen diese Frage gestellt. Als erstes hatte sie sich bei ihrer Wirtin erkundigt:
„Der Junge wünscht sich welche.“ „Ja doch“, hatte sie geantwortet. „Zum Beispiel am Strand.“ „Auf dem sandigen Teil?“
„Ich glaube ja. Beim Muschelernten sieht man oft welche.“ Sie erinnerte sich, dass Takeshi gestern die ausgetrockneten Krabbenteile an einer sandigen Stelle gefunden hatte, und so zog sie mit ihm los.
In der Morgensonne stapften sie über die feuchten Dünen.
Es war ein schöner Strand, ohne angeschwemmte Katzenleiche, Gemüsereste oder eine Holzsandale mit abgerissenem Riemen. Die Fußspuren, die sich an der Wasserlinie entlangzogen, stammten nur von ihnen.
„Ich grab mal ein Loch“, sagte Takeshi und stopfte die Plastiktüte, die er mitgebracht hatte, um das Tier hineinzutun, in Yukos Handtasche. Er spreizte die Beine und begann, mit aneinandergelegten hohlen Händen den Sand zu sich herzuschaufeln.
„Halt, warte!“ unterbrach Yuko ihn und knöpfte seine Ärmel auf. Sie faßte ihn am Handgelenk, und als ob sie die dünnen kurzen Ärmchen schälte, schob sie das Hemd mitsamt dem Unterhemdärmel über den Ellbogen hoch.
Takeshi fing eifrig an zu arbeiten. Auf dem Boden des Lochs sammelte sich Meerwasser.
„Ich sehe keine“, sagte Yuko, die danebenstand und zusah.
„Ja, ich mache noch ein Loch.“ Aber wieviel er auch grub, es kam immer nur Meerwasser zum Vorschein.
„Du, Tante, vielleicht sind sie da oben“, sagte Takeshi, lief auf den trockenen Teil des Strandes und fing wieder an zu suchen.
Krabben hatten sie zwar nicht gefunden, aber Yuko ließ ihn noch ein wenig Muscheln sammeln, dann rief sie ihn zurück, und sie traten wieder auf die Straße. Ihr Ziel war nun das Fischzuchtgehege, das in einer Felsenbucht angelegt worden war und noch hinter dem Bahnhof lag. Das Gehege schien dem Fischereigroßhandel zu gehören. In dieser Gegend fuhren Boote mit Muscheltaucherinnen, Netze hingen zum Trocknen aus, und es roch besonders stark nach Meer. Irgendwie hoffte Yuko, hier etwas erreichen zu können.
Als sie in die Nähe des Fischzuchtgeheges kamen, war dort noch nichts los.
„Ich frag mal da vorn.“ Yuko ging mit Takeshi zu einem kleinen hüttenähnlichen Haus, das auf dem Felsen hinter dem Fischgehege stand. Sie öffuete die klapprige Holztür, sah im Halbdunkel große Körbe auf dem gestampften Boden stehen, die bis an die Decke gestapelt waren, und rief hinein, worauf eine alte Frau erschien, die sie sogleich fragte:
„Entschuldigung, findet man hier Krabben?“ „Ach, Sie meinen Strandkrabben?“ Die alte Frau nickte. Sie deutete mit beiden Händen die Größe an und sagte:
„Die schmecken nicht. Und es gibt auch nicht viele. Wir verkaufen keine.“ „Nein, ich meine nicht die zum Essen, sondern die ganz kleinen...“ „Ach die mit den roten Scheren? Die zum Spielen?“ „Ja, die“, antwortete Takeshi. Die alte Frau kniff die Augen zu und sah das Kind an.
„Aha. Tja, wo findet man die denn? In dieser Gegend gibt es nicht so viele Krabben. - Aber wollen Sie nicht mal das Zuchtgehege ansehen?“ „Sollen wir's ansehen?“ fragte Yuko das Kind.
„Was ist denn ein Zuchtgehege?“ „Das ist das große Loch hier unten. Da kommt das Wasser vom Meer rein, und dann sind da viele Fische, die werden gefüttert, bis sie groß sind, auch Abalonen in Körben. Möchtest du das sehen?“ „ Ist mir egal“, antwortete Takeshi.
„Dann laß uns gehen. - Haben Sie vielen Dank.“ Als sie wieder losgingen, fragte Takeshi:
„Wo gibt es denn die Krabben?“
Auf der anderen Straßenseite kamen ihnen drei Schuljungen im Alter von etwa dreizehn, vierzehn Jahren entgegen.
„Die wissen bestimmt Bescheid“, sagte sie zu Takeshi, und als sie fast auf gleicher Höhe waren, rief Yuko sie an:
„Wißt ihr nicht, wo man Krabben findet? Ich meine die kleinen, die zum Spielen...“ „Was?“ Die Jungen überquerten die Straße. Yuko wiederholte ihre Frage.
„Ach soo.“ Die drei sahen einander an. „Krabben gibt's doch jede Menge.“ Sie lächelten etwas verlegen und wollten weitergehen.
Yuko hielt sie zurück.
„Bitte, wo sind sie denn?“ Die drei Jungen gingen schräg über die Straße und schauten zurück.
„Keine Ahnung“, sagte einer von ihnen.
Ob sie verlegen waren oder es wirklich nicht wußten oder sich womöglich lustig machten? Als Yuko ihnen nachschaute, wie sie sich weiter entfernten, schmollte Takeshi:
„Warum sagen sie uns nicht, wo? Sie haben doch gesagt, es gibt welche!“ „Sie wußten es wohl nicht. Wir können ja wieder fragen“, sagte Yuko.
Im Weitergehen fiel ihr, wohl wegen der drei Schuljungen, die Mittelschule ein, die weiter vorn an der Straße lag, auf der sie sich jetzt befanden. Wahrscheinlich war es ihre Schule; sie lag auf einer Anhöhe, vom Strand durch die Straße getrennt. Vom großen Schulhof aus hatte man einen herrlichen Blick aufs Meer. Yiiko hatte heimlich ein paarmal bei ihren Spaziergängen die Toilette in einer Ecke des Schulhofs benutzt und jedesmal gedacht, es wäre nicht schlecht, an einem Ort wie diesem Lehrer zu sein. Mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, und sonntags Angeln gehen. . . Und gerade jetzt fand sie, wenn es ein Biologielehrer wäre, könnte er sehr wohl nebenher die Meereslebewesen dieser Gegend erforschen. So jemand würde sicher auf Anhieb genaue Auskunft geben können, wo die Krabben lebten. - Aber in den Frühjahrsferien war auch das nicht möglich.
Eine junge Frau kam mit einem leeren Korb die mit Gestrüpp bewachsene Böschung vom Meer zur Straße hoch;
wahrscheinlich hatte sie gerade am Strand Tang zum Trocknen ausgebreitet. Yuko nahm Takeshi bei der Hand, ging zu ihr hin und erkundigte sich, ob es hier keine Krabben gäbe.
„Die? Die gibt's in den Bergen“, kam die Antwort.
„In den Bergen?“ Yuko schrie fast. „Sind sie nicht am Meer?“ „Die mit den roten Scheren?“ „Jaja.“ „Die Rotkrabben. Die findet man in den Bergen bei den Quellen, deswegen heißen sie Süßwasserkrabben. Die Kinder binden sie an einen Faden und spielen damit.“ „Gibt es die hier denn nicht? - Gibt es hier denn überhaupt Krabben?“ „Es gibt nur so winzige, wie kleine Steinchen.“ „Welche Farbe haben sie denn?“ „Sie haben eigentlich gar keine Farbe. Wenn man am Strand einen Stein hochhebt, dann rennen sie ganz schnell weg.« Wenn es so viele davon gab, könnte doch auch eine besonders große darunter sein, wenn auch farblos. . .
„Vielen Dank“, sagte sie.
Beim Nachdenken ging ihr jedoch auf, daß es in dieser Gegend gar keinen Strand mit Steinen gab, die man hochheben und unter denen sich Krabben verbergen könnten. Es gab nur reinen Sandstrand oder große Felsen, ansonsten allenfalls noch einzelne große Brocken, die tief im Sand verankert waren und von den Wellen umspült wurden. Yuko ging mit Takeshi auf verschiedenen Wegen zu den Stränden - dort, wo man die dicht bewachsene Böschung am besten hinunterkam, über die Straße mit dem Wegweiser zu einem großen Strandhotel oder über die Gasse zwischen den Häusern mit den hohen Fernsehantennen. Doch das Ergebnis war immer das gleiche.
„Hier auch nicht. Hier gibt's solche Steine nicht“, mußte sie ihm jeqesmal sagen. .
„Was hat denn die Frau gemeint?“ fragte Takeshi, wenn sie wieder umkehrten.
Endlich entdeckte Yuko einen Strand mit Steinen, wie die Frau sie beschrieben hatte. An einer Stelle, die die Wellen, außer bei Sturm, nicht mehr erreichten, lagen mehrere handballgroße Steine. Natürlich würde es auch dort keine Krabben geben. Aber Yuko wollte Takeshi wenigstens Gelegenheit verschaffen, die Steine hochzuheben, und führte ihn dort hinunter.
„Endlich“, sagte sie.
„Tante, ich heb den Stein hoch. Fängst du die Krabbe, wenn sie rauskommt?“ „Ja, das mach ich.“ Man mußte vorsichtig sein, damit die Krabbe nicht weglief... Takeshi setzte beide Hände auf den Stein, den er sich ausgesucht hatte, und schaute mit vornübergebeugtem Körper, als wolle er Kopfstand machen, zu, während er den Stein sachte lupfte. Yuko stand ihm direkt gegenüber - ihre Köpfe berührten sich fast -, und sie starrte in den sich öffnenden Spalt.
„Siehst du was, Tante?“ fragte Takeshi erregt.
Trotz ihrer bisher ergebnislosen Suche und trotz all ihrer Bemühungen gab Takeshi offenbar nicht auf, er sagte bloß immer: „Warum gibt's denn hier keine?“ oder „Hatte sie nicht gemeint, hier?“ Und jedesmal fügte er hinzu: „Wann findest du mir denn eine?“ oder „Wo suchen wir denn jetzt?“ War es, daß sein Verlangen nach einer Krabbe sich nur noch steigerte, solange sie keine fanden, oder war es die naive Grausamkeit eines Kindes, das glaubte, ein Erwachsener könne alles? Wenn Yuko ihn so reden hörte, brachte sie es nicht übers Herz, ihm vorzuschlagen, sie sollten aufgeben. Im Gegenteil, sie gab unwillkürlich eine optimistische Antwort und stachelte damit seinen Eifer eher noch an. Sie sehnte sich nun nach dem Augenblick, wenn sie eine mit hocherhobenen Scheren seitwärts wegstiebende Krabbe fangen und sie mit den Worten „Wir müssen aufpassen, daß sie uns nicht in den Finger schnappt“ in die durchsichtige Plastiktüte fallenlassen würde.
Erneut fragte Takeshi:
„Immer noch nichts, Tante?“ „Nein, heb ihn noch etwas weiter hoch.“ Sie beugte ihren Kopf noch weiter hinunter und schaute tiefer in den Spalt, und dabei wünschte sie so sehr, im jähen Licht die roten Scheren der aus ihrer Behausung vertriebenen Krabbe zu sehen, daß ihre Stirn sich fast verkrampfte.

Takeshi schlief immer noch. Yuko schloß noch einmal die Augen.
Warum gab es denn nur keine Krabben? Wenn sie wenigstens die kleine Meeresschildkröte bekommen hätte! Aber sie wußte, wenn in diesem Fall Takeshi nicht sagen würde, er bräuchte nun keine Krabbe mehr, so würde sie selbst den Gedanken an die Krabben auch niemals aufgeben können.
Als Yuko Takeshi gestern eine Krabbe versprochen hatte, war das nicht etwa ein fauler Trick, nur, um ihn hierbehalten zu können. Sie hatte einfach geglaubt, an diesem großen Strand bräuchte man nur zu rufen, und schon käme eine Krabbe angelaufen. Dachte nicht jeder, den sie bisher gefragt hatte, ebenso? Diejenigen, die ihr Auskunft gegeben hatten, hatten womöglich auch nur gemeint, daß es doch Krabben geben müsse, und hatten bloß die Stellen genannt, wo sie sie vermuteten. Auch ihre Wirtin sagte, als sie mit leeren Händen heimkehrten:
„Wirklich? Haben Sie nichts gefunden? Ich meine, ich hätte welche beim Muschelernten gesehen. Aber die Muschelernte ist ja erst ab Anfang April freigegeben, das dauert noch ein paar Tage. Vielleicht habe ich sie etwas später gesehen.“ Womöglich waren am ehrlichsten die drei Schüler gewesen, die meinten, es gäbe Krabben, aber auf die Frage, wo man sie finden könne, nur sagten, sie wüßten es nicht.
Gab es hier vielleicht überhaupt keine Krabben? Es gab nur noch eine einzige Felsenküste, wo sie noch nicht gewesen waren, aber auch da wäre wohl nichts zu holen.
Vielleicht fand man sie wirklich nur bei den Quellen in den Bergen.
Yuko erinnerte sich plötzlich, daß die schmalen Felder, die man in dieser Gegend bisweilen sah, häufig mit Steinwällen befestigt waren. Es war zwar nicht in den Bergen, und Quellen gab es auch nicht, aber sie meinte, es müsse dort auch ab und zu feuchte Stellen gegeben haben. Vielleicht lebten die sogenannten Rotkrabben ja dort? Sie beschloß, einmal nachzusehen, während das Kind noch schlief, und stand auf.
„Ach, Sie gehen aus?“ fragte die Tochter des Hauses, die am Fuße der Treppe stand. Sie würde ihre hartnäckige Suche nach den Krabben sowieso nicht verstehen, und da es Yuko deshalb etwas peinlich war, ihre Absicht preiszugeben, antwortete sie:
„Ja. Das Kind schläft noch. Ich bin bald wieder zurück.“ Sie schlüpfte in ihre Sandalen und trat nach draußen.
Vor dem Geschäft hockte ihre Wirtin mit einem Mann mittleren Alters vor einem Eimer. Die Frau drehte sich nach Yuko um und sagte:
„Heute abend habe ich wieder Seeigel für Sie.“ Im Eimer waren schwarzbraune, nasse Seeigel; die stacheligen Körper bewegten sich kaum merklich. Der Mann nahm sie einzeln heraus, und als er alle auf den Boden gesetzt hatte, kam im Eimer darunter ein anderer Fang zum Vorschein.
Diesmal waren es tischtennisballgroße, grün behaarte Kugeln, die den ganzen restlichen Eimer ausfüllten.
„Was ist denn das?“ fragte Yüko.
Der Mann antwortete:
„Das sind auch Seeigel. Sie sind zwar nicht eßbar, aber wir sammeln sie als Material für die Puppenherstellung.“ Yuko hatte keine Ahnung, wo Seeigel lebten, und so fragte sie:
„Wo findet man denn solche Seeigel?“ „An einem steinigen Strand. Wenn man die Steine einzeln absucht.“ „Gibt es da nicht auch Krabben?“ „Ja, alles mögliche. Auch Einsiedlerkrebse und Seesterne...“ „Sind die Krabben auch unter den Steinen?“ „Ja. Die stieben dann so lustig auseinander.“ Aha, dachte Yuko, das mußten also solche Steine sein wie die, von denen die junge Frau gesprochen hatte.
„Sind das nur kleine Krabben? Oder gibt es auch solche?“ Sie deutete mit den Fingern die Größe einer Streichholzschachtel an.
„Ja, manchmal.“ „Was heißt das, manchmal?“ „Nicht so viel, daß sie in alle Richtungen auseinanderlaufen. Heute gab's vielleicht zehn Stück.“ „Haben sie rote Scheren ?“ „Nein, die Krabben hier haben keine roten Scheren. Die haben dieselbe Farbe wie der Panzer.“ Daß die Scheren nicht rot waren, mußte in Kauf genommen werden.
„Wo liegt denn dieser Strand?“ Der Mann nannte einen Küstenabschnitt, der mit dem Zug in knapp einer Stunde zu erreichen war; von dort aus verkehrten die Schiffe nach Uraga.
„Ist der Strand nahe beim Bahnhof?“ „Vielleicht zwölf, dreizehn Minuten zu Fuß. Gegenüber der Anlegestelle“, erklärte der Mann.
„Wollen Sie hin?“ fragte die Frau.
„Ich weiß noch nicht. Je nachdem, vielleicht morgen...“ erwiderte Yuko. Sie hatte schon beschlossen, darauf zu verzichten, die Steinwälle bei den Feldern zu untersuchen. Kajii würde morgen sowieso erst am späten Nachmittag eintreffen, und so hatte sie vor, am Vormittag mit Takeshi dorthin zu fahren. Aber die Erfahrung von heute früh hatte sie skeptisch gemacht. Es handelte sich ja um Lebewesen. Heute mochten zehn dagewesen sein, morgen aber möglicherweise keine einzige! Auch könnte es morgen regnen, so daß sie nicht würden fahren können, und es war nicht ausgeschlossen, daß das Wetter sich auch übermorgen noch nicht besserte. Sie nahm sich vor, Takeshi noch nichts davon zu sagen. Das hieß, sie mußte bis zum Einbruch der Dunkelheit so tun, als suchte sie Krabben für ihn.
Es war kurz nach drei. Takeshi schlief noch, aber da sie ihm versprochen hatte, Bescheid zu sagen, weckte sie ihn. Im Laden bekam er Süßigkeiten, die sie mit an die Felsenküste nahmen.
Die Flut hatte eingesetzt, aber noch waren überall auf den Felsen Wasserlöcher zu sehen.
„Takeshi“, sagte sie und zeigte ihm die Stellen, „meinst du nicht, daß es hier Krabben gibt?“ Sie wies auch auf einen geraden Spalt in einem großen Felsen: „Sieh mal. Hier kommt vielleicht eine heraus.“ Doch offenbar hatte Yuko, die schon von einem verheißungsvolleren Ort wußte, gegenwärtig nicht mehr den rechten Jagdeifer an den Tag gelegt, und Takeshi schien dies gespürt zu haben.
Da er keine Krabben finden konnte, hatte er begonnen, Schneckenrnuscheln zu sammeln; nun stand er auf und kam, die Plastiktüte mit den Muscheln in beiden Händen, zu Yuko, die auf einer Klippe saß.
„Gehen wir nicht nach Hause? Es gibt sowieso keine Krabben „, sagte er.
Und als habe er sie wegen ihrer Lustlosigkeit und ihrer Untauglichkeit seit dem heutigen Morgen schon aufgegeben, fuhr erfort:
„Wenn der Onkel morgen kommt, soll er mir welche finden. „ „Takeshi! Warum sagst du denn so etwas?“ sagte Yuko.
Ihr Tonfall erschreckte ihn so, daß seine Wimpern hochzuckten.
Sie errötete. Doch nicht nur aus Eifersucht.
„Takeshi, so etwas darfst du nicht sagen.“ Takeshi ließ seinen kleinen Kopf hängen; sie begann, freundlich auf ihn einzureden: „Sei bitte brav und sag doch dem Onkel, wenn er kommt, nicht, daß er Krabben für dich fangen soll. Und sag ihm auch nicht, daß wir heute welche gesucht und keine gefunden haben.“ In dem Moment, als ihr klar wurde, daß Kajii nichts von ihrer Hartnäckigkeit bei der Krabbensuche erfahren dürfe, errötete sie vor Scham. Das konnte Takeshi natürlich nicht ahnen, aber bei ihrer bedrohlichen Miene von vorhin hatte er wohl Angst bekommen. Er fragte nicht, warum, und nickte nur mit gesenktem Kopf.
„Wenn wir keine Krabben finden, bis du heimfährst, dann fange ich nächstes Mal bestimmt welche für dich. Ich werde herausfinden, wo sie sind.“ „Aber ich komme vielleicht nicht mehr.“ „Dann bringe ich sie dir nach Tokyo mit.“ „Hm.“ Takeshi lebte allmählich wieder auf.
„Du...“ sagte er und schaute hoch.
„Was ist denn?“ Yuko legte ihre Hand auf Takeshis Schulter.
„Darf ich dem Onkel erzählen, wie die kleine Schildkröte geschwommen ist?“ Yuko tat, als überlegte sie kurz, und antwortete:
„Das darfst du.“ „Und von dem Feuer und den Kreiselschnecken, die wir gegessen haben?“ „Das darfst du auch.“ „Und wie wir mit dem Schiff zu der Insel gefahren sind?“ „Das darfst du auch.“ „Und wie ich gestern eine Krabbe gefunden habe?“ Sie überlegte wirklich ein wenig und antwortete dann:
„Das darfst du auch.“ Gleichzeitig begann sie zu überlegen, wie sie den morgigen Strandausflug bewältigen würde; wenn Takeshi Kajii nur von den Krabben erzählen würde, die sie gefunden hatten, so hätte sie nichts dagegen, mit ihm hinzufahren.

1963

Taeko Kono: Krabben; in: Knabenjagd; Insel Verlag 1988 Frankfurt am Main